Vor mehr als 100 Jahren, mit dem Abschluss des Versailler Vertrages, verlor Deutschland alle »seine« Kolonien. Der Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet und trat am 10. Januar 1920 in Kraft. Damit endete die verhältnismäßig kurze Zeit der deutschen Kolonien.
1884 hatte Deutschland Territorien in Afrika, die deutsche Kaufleute erworben hatten, zu staatlichen Schutzgebieten erklärt und damit das deutsche »Kolonien-Zeitalter« begründet, wenn auch schon acht Jahre vorher »Besitz und Rechte« für das Deutsche Reich in Übersee erworben wurden. Deutsch-Neuguinea, heute nördlicher Teil Papua-Neuguineas; Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, Burundi und Ruanda; Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia; Kamerun; Karolinen, Palau und Marianen (Westpazifik); Kiautschou (Nordostchina); die Marshall-Inseln, Nauru und die Samoa-Inseln, heute Samoa (alle im Pazifik) und Togo waren deutsche Kolonien.
Die Niederschlagung von Aufständen der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialmacht in Deutsch-Südwestafrika zeigen exemplarisch die Brutalität der Kolonialherren. Es ging in den Kolonien um die Ausbeutung der Ressourcen der Länder und dabei ist man oftmals skrupellos mit Menschenleben umgegangen. Die deutschen Kolonien waren in erster Linie ein perfides Geschäftsmodell. Doch war 1884 weder der Beginn noch 1920 das Ende der Verstrickungen Deutschlands in den Kolonialismus. Die frühen Handelshäuser, die Missionare und auch Forschungsreisende wie der berühmte Alexander von Humboldt waren Boten des globalen Kolonialismus. Und auch nach 1920 ist Deutschland weiter Kolonialmacht, wenn auch ohne eigene Kolonien.
Heute braucht man zur Marktfähigmachung der Welt keine Kolonien mehr, sondern nutzt das Instrumentarium der sogenannten Freihandelsabkommen, um sich oftmals Handelsvorteile auf Kosten der Länder des Südens zu verschaffen. TTIP, CETA & Co. sind deshalb auch im Kulturbereich sehr umstritten. Jetzt, 100 Jahre nachdem Deutschland »seine« Kolonien verloren hat, beginnt endlich die substanzielle Debatte.
Zuerst einmal muss man wissen, um welche Artefakte, menschlichen Gebeine und Kunstwerke in den Ethnologischen Museen und Sammlungen es geht. Die Applied Botany Collection (ABC) der Universität Hamburg, die Bonner Amerikas-Sammlung (BASA Museum), die Ethnografische Studiensammlung der Johannes Gutenberg Universität Mainz, das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin (SPK), das Linden-Museum in Stuttgart, das Medizinhistorische Museum der Charité in Berlin, das Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg, das Museum Fünf Kontinente in München, das Museum für Naturkunde Berlin, das Museum Wiesbaden - Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur, das Nordfriesland Museum in Husum, die fünf Museen des PAESE-Verbundprojektes (Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg, Roemer- und Pelizaeusmuseum in Hildesheim, Städtisches Museum in Braunschweig, Ethnologisches Museum der Universität Göttingen), die Philipps Universität Marburg, das Rautenstrauch Joest Museum - Kulturen der Welt in Köln, die Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen im Verbund der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (SuUB), die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, das Übersee Museum in Bremen, die Universität Bayreuth - Institut für Afrikastudien, und die Universität Freiburg, werden ihr Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten bald über eine zentrale Internetadresse öffentlich auffindbar machen. Ein erster, ein wichtiger Schritt.
Unter welchen Bedingungen sind die Artefakte, menschlichen Gebeine und Kunstwerke in die Ethnologischen Museen gekommen? Diese Frage muss schnell und trotzdem gründlich beantwortet werden. Das gilt auch für die Missionssammlungen.
Die Diskussionen um die Konzeption des Humboldt Forums in Berlin, das hoffentlich irgendwann in diesem Jahr dem Publikum geöffnet werden kann, hatte die Debatte positiv befördert. Der Kulturbereich wird sich der Verantwortung stellen und natürlich werden Bestände aus den Ethnologischen Museen, wenn sie unrechtmäßig erworben wurden, zurückgegeben werden. Dazu gehören auch die zum Symbol für koloniale Raubkunst gewordenen Benin-Bronzen. Doch mit diesen notwendigen Rückgaben ist die Debatte mitnichten zu Ende.
Die Frage nach der Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit ist viel tiefgreifender. Deutschland muss sein koloniales Verhalten HEUTE hinterfragen. Wir dürfen zum Beispiel keine Freihandelsabkommen zulasten des globalen Südens mehr abschließen. Der globale Süden braucht nicht mehr deutsche Entwicklungshilfe, sondern echte Teilhabemöglichkeit am globalen Handel und am Kulturaustausch. In Coronazeiten ist diese Forderung noch wichtiger geworden!
Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
Grafik: Deutscher Kulturrat