20:00 Uhr, Tagesschau. Mit dem Gong bricht eine Flut schlechter Nachrichten auf mich nieder; ein Zugunglück in Taiwan, ein drohender Vulkanausbruch nahe der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, die Corona-Zahlen steigen. Zurück bleibt das bittere Gefühl, dass die Welt den Bach runtergeht.
Warum so negativ?
Journalisten stehen vor der Mammutaufgabe, aus einer Vielzahl eingehender Meldungen diejenigen herauszufiltern, die für ihre Zielgruppe – und das ist im Fall der Tagesschau nicht weniger als die deutsche Bevölkerung – relevant sind. Dabei richten sie sich nach sogenannten Nachrichtenfaktoren, bei denen es sich um Merkmale der Ereignisse handelt.
In
den USA stürmen Trump-Anhänger das Kapitol? Check. Mit den USA als Ort
des
Geschehens sehen Journalisten schon einmal ein Kriterium erfüllt – die
Elite-Nation. Trump als Ursache des Geschehens – perfekt, denn damit ist
der Nachrichtenfaktor Personifikation erfüllt. Und nicht
zuletzt ist der Angriff auf den Kongress der Vereinigten Staaten eine
schlechte Nachricht für die Demokratie. Negativismus ist –
und das ist in der Kommunikationswissenschaft unumstritten – ebenso ein
Nachrichtenfaktor.
Ereignissen liegt ihr Nachrichtenwert nicht per se inne. Journalisten schreiben ihn den Ereignissen zu. Und wir Leser ebenso. Je mehr Nachrichtenfaktoren, desto interessanter. Negativschlagzeilen schreien "lies mich" – und ich gehorche. Fakt ist: Schreckensnachrichten erregen Aufmerksamkeit, auf die viele Medien angewiesen sind. Gleichzeitig hinterlassen sie oft ein negatives flaues Gefühl im Bauch. Damit bin ich nicht allein: Eine stark negative Berichterstattung steht im Verdacht, Politikverdrossenheit und Zynismus auszulösen.
Informiert sein ohne Frust?
Der
Boulevard bedient sich neben skandalträchtigen Titeln
sogar dem anderen Extrem – Positivismus als Nachrichtenfaktor.
„Ostergrüße der
Stars – Der heißeste Hase im Körbchen ist…“, titelte die BILD etwa am
Ostermontag. Mir aber geht es nicht darum, über Belangloses zu
berichten. Das hier ist ebenso wenig eine Aufforderung, über
Katastrophen zu schweigen oder sie
kleinzureden. Es
geht um die Art und Weise, wie diese Schreckensnachrichten aufbereitet
werden.
Ulrik Haagerup, dänischer Journalist und ehemaliger Direktor der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt DR, fordert
ein Umdenken der Medien weg von einer vor Negativität triefenden Nachrichtenwelt
hin zu konstruktiven Nachrichten. Der sogenannte konstruktive Journalismus soll Menschen berühren
und über Begebenheiten berichten, die in den Massenmedien aktuell keinen Platz
finden. Haagerup betont, dass er kein Verfechter eines „naiven Positivismus“
ist, sondern einer lösungsorientierten Berichterstattung.
Er führt ein Beispiel aus Dänemark an: Die Problematik der Antibiotika-Resistenzen durch intensive Landwirtschaft war in den dänischen Medien allgegenwärtig, dennoch verschlimmerte sich die Lage weiter. Journalisten stießen bei ihren Recherchen auf einen Landwirt aus den Niederlanden, dessen Tochter an multiresistenten Keimen erkrankt war. Daraufhin verabreichte er den Tieren anstelle von Antibiotika sogenannte Probiotika. Den Penicillin-Bedarf konnte er dadurch auf 5 % der ursprünglichen Menge reduzieren. Die redaktionelle Aufbereitung dieses Falls hatte Auswirkungen auf Landwirte in Dänemark, welche nun ebenfalls Probiotika verwendeten. Darüber hinaus wurde ein Forschungsprojekt gegründet. Dieser Fall hat die Problematik multiresistenter Keime nicht aus der Welt geschafft, aber er steht exemplarisch für das Potenzial konstruktiver Nachrichten: andere zu inspirieren und Unternehmungen anzustrengen.
Mehr Engagement durch konstruktive Nachrichten?
Erste Untersuchungen zu der Wirkung konstruktiver Nachrichten zeigen, dass Rezipienten Nachrichten mit Lösungsansatz gegenüber destruktiven katastrophenbehafteten Nachrichten bevorzugen und nach dem Lesen der Nachrichten erwartungsgemäß besserer Laune sind. Zudem weisen sie stärkere Absichten auf, sich zu dem Nachrichtenthema zu engagieren. Daraus folgerten die Autoren, dass konstruktive Nachrichten positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben können. Natürlich mündet eine Absicht nicht automatisch in einer Handlung. Aber wenn sich von Hundert Lesern einer tatsächlich engagiert, wäre das schon einmal ein Fortschritt.
Konstruktive Nachrichten sind noch nicht der
Standard in der
deutschen Medienlandschaft – und schon gar nicht im zwangsweise kurz
gehaltenem
tagesaktuellen Nachrichtengeschäft. Doch es gibt sie, die Nachrichten
mit
Lösungsansätzen. In dem Podcast „Lage der Nation“ bereiten der Jurist
Ulf
Buermeyer und der Journalist Philipp Banse etwa die Geschehnisse der
letzten Woche auf und diskutieren Wege aus der Krise. Und während im
Frühling 2020 in Deutschland zum ersten Mal die Schotten dicht machten,
entstand das lokale Medium „RUMS“, das sich kritischem und zugleich
konstruktivem Journalismus verschreibt.
Um dem Sog der negativen Schlagzeilen zu entkommen, lohnt es sich, nach links und rechts zu gucken und gezielt Medien auszusuchen, die einem mit einem positiven Gefühl zurücklassen ohne ins Triviale zu driften. Dennoch kann konstruktiver Journalismus nicht als Alleinlösung dienen. Denn die Recherche von Lösungsansätzen braucht Zeit. Vielleicht lässt sich also ein bisschen Frust nicht vermeiden, wenn man tagesaktuell informiert sein möchte. Ich sehe konstruktive Nachrichten nicht als Ersatz, sondern vielmehr als Ergänzung zu den stark gebündelten Nachrichten der Tagesschau.
Quellen
-
Baden, D., McIntyre, K., & Homberg, F. (2019). The impact of
constructive news on affective and behavioral responses. Journalism
studies, 20(13): 1940-1959.
- Galtung & Ruge (1965). The structure of foreign news. Journal of peace research, 2: 64-91.
- Haagerup, U. (2015). Constructive News. Salzburg: Verlag Oberauer.
-
Schulz, W. (1976). Die Konstruktion von Realität in den
Nachrichtenmedien: Analyse der aktuellen Berichterstattung. freiburg /
München: Verlag Karl Alber.
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