Viel inhaltliches muss man ja über Tolstois Anne Karenina nicht sagen, denn mit seinen Themen der Liebe, der Selbstbestimmung der Frau, der Treue und der Existenz Gottes ist das Stück aktuell wie eh und je. Aber es gelingt den münsterschen Theaterschaffenden exzeptionell Tolstoi regelrecht ins 21. Jahrhundert zu katapultieren. Es entsteht eine bombastische Mischung aus dem russischen Zarenreich und den neoliberalen Kapitalismus. So werden aus potentiell verstaubten Charakteren interessante und durch und durch attraktive Menschen.
Wronski (Jonas Riemer) und Karenina (Sandra Schreiber) auf Tuchfühlung.
Ein toller Vorgeschmack:
Ein Augenschmaus! Die Bühne des Kleinen Hauses wird perfekt ausgenutzt. Szenen mit stimmigen, aufwendig Produzieren Filmchen untermauert. Ja, Anna, gespielt von der tollen Sandra Schreiber, steht gar gefühlt das letzte Drittel vor einer Kamera die ihr Gesicht auf die Bühne wirft. Ursprünglich ging es um ein Gemälde das Wronski von ihr anfertigt, aber sie ist auch in Gedanken dabei, wie ihr Sohn an sie denkt. Das Stück hat bis zu Annas Italienaufenthalt, wo eben jenes Gemälde gemalt wird, einen schier unaufhaltbaren Drive. Auch weil das ganze Spiel zudem mit knalliger, moderner Musik untermauert wird.
Das Stück kommt mit seinen 130 Minuten lang daher, aber jede Sekunde ist es wert! Eine Neubesetzung gibt es allerdings im Gegensatz zu Januar zu verzeichnen: Louis Nitsche gibt nun den Lewin und er brilliert geradezu! Für ihn scheint es eigens neue Aufnahmen für den Hintergrund gegeben zu haben, alle anderen scheinen noch aus dem Vorjahr zu stammen, genau wie die hier verwendeten Fotos. Das Stück läuft noch zweimal im Dezember und einmal im Januar.
Weitere Informationen: https://www.theater-muenster.com/produktionen/anna-karenina.html
Foto: Oliver Berg