Münster - Zwölf Wohnhäuser verzeichnet der Lageplan der Universität. Bei einem davon steht „Corpus Musicae Ottomanicae (CMO)“ auf dem Klingelschild. Hier, an der Philippistraße 3, untersuchen Wissenschaftler vorderorientalische Musikhandschriften. Man klingelt. Der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Ralf Martin Jäger, öffnet die Tür. Weiße Gardinen in den Fenstern der dunkel gebeizten Haustür, ein blaugekachelter Ofen im Büro des Musikethnologen und ein hübscher Erker in der Bibliothek mit Blick auf den Garten zeigen, dass dies kein typisches Universitätsgebäude ist, beziehungsweise dass es ursprünglich nicht zu Forschungszwecken gebaut wurde.
Als das Haus in den 1930er Jahren erbaut wurde, gab es die Philippistraße noch nicht, sodass es laut „Gebrauchsabnahmeschein“ vom 23. November 1935 am Horstmarer Landweg 36 lag. Der Horstmarer Landweg ist vielen Studierenden bis heute nicht nur für seine Wohnheime, sondern vor allem für die Plätze und Hallen des Hochschulsports und der Sportwissenschaftler bekannt. Und tatsächlich: Wo heute Musikwissenschaftler alte Handschriften untersuchen, wohnte zunächst der Direktor des ehemaligen Instituts für Leibesübungen, Dr. Hugo Wagner (1892-1970).
Das „Direktorwohnhaus“ aus rotem Backstein ist symmetrisch geschnitten, mit einer Außentreppe zur Eingangstür in der Mitte. Die Fenster sind mit hellem Sandstein eingefasst. Das Gebäude wirkt somit von außen fast wie eine bürgerliche Version der Adelshöfe in den Straßen rund um Münsters Prinzipalmarkt. Obwohl es viel kleiner ist als diese architektonischen Vorbilder, bot das Innere seinen Bewohnern eine Menge Platz.
Auf einer Bestandszeichnung von 1956 aus dem Universitätsarchiv sind im Erdgeschoss zwei Wohnzimmer und ein Esszimmer sowie ein Schlafzimmer eingetragen. Das Obergeschoss umfasste vier Schlafzimmer. Beide Etagen hatten jeweils eine Küche, Kammer und Bad. Die Diele mit einer geschwungenen Treppe ist heute zugunsten von Büroflächen um etwa die Hälfte kleiner als noch in den 1950er Jahren.
Das Gebäude war zunächst im Besitz der „Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität“. Diese hatte das Gelände trotz heftiger Proteste der Stadtverordnetenversammlung erworben wie Klaus Prange, ehemaliger akademischer Oberrat am Institut für Sportwissenschaft, in einem Überblick über die Geschichte des Instituts zitiert: „In einer Zeit großer wirtschaftlicher Not dürfe bestes Ackerland nicht zugunsten eines Geländes für studentische Leibesübungen Zweck entfremdet werden.“
Die Anlagen wurden dennoch gebaut und in der nationalsozialistischen Diktatur viel genutzt. Im Krieg blieben die Sportstätten an diesem Standort, anders als das Zentrum von Münster, weitgehend von Bombenschäden verschont. Erst 1946 wurden die Sportstätten der WWU am Horstmarer Landweg dem Land NRW übereignet.
Ein Editionsprojekt wie das CMO würde man in dem Haus nicht erwarten. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), gibt ein Team internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler osmanische Notenhandschriften heraus und erstellt einen Online-Katalog über die Quellen dieser vielfältigen Musikkultur.
Das ist eine Pionierarbeit, denn zu vielen Handschriften erhielten die Wissenschaftler erst in den letzten Jahren Zugang, und manche Schätze dürften noch in den Archiven und Bibliotheken schlummern. Zudem erstellen die Forscher erstmals wissenschaftlich-kritische Ausgaben von Liedtexten der osmanischen Musikkultur. Dafür stehen den Sprach- und Musikwissenschaftlern zwei Etagen des ehemaligen Direktorhauses zur Verfügung.
„Es ist ein wunderschönes Gebäude, wir fühlen uns hier sehr wohl“, betont Ralf Jäger. „Bevor wir eingezogen sind, gab es neben einigen Büros eine Gästewohnung der Sportwissenschaft.“ Bei der Renovierung sei beispielsweise die vorherige Trennung von Erd- und Untergeschoss aufgehoben worden. Vom Fenster seines Büros aus blickt der Musikwissenschaftler auf die Sportplätze der Universität.
An den Wänden hängen Instrumente: die Ud, eine arabische Laute in ihrer türkischen Bauart, die Ney-Flöte, das Instrument der tanzenden Derwische, sowie die Rebec, ein dreisaitiges Streichinstrument. „Im Untergeschoss haben wir drei Mitarbeiterbüros, im Erdgeschoss neben meinem Dienstzimmer zwei weitere Büros, das Geschäftszimmer und einen Arbeitsraum mit einer kleinen Bibliothek.“ Der Platz reiche jedoch nicht für das ganze Projekt, bedauert der Musikethnologe. Die Bibliothek sei größtenteils in der Bergstraße untergebracht, das Tonstudio und ein Arbeitsplatz für eine Hilfskraft des Projekts befinde sich in den Räumen der Musikwissenschaft, gegenüber an der Philippistraße.
Unter der Überschrift „Sportanlagen“ hat die „Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität“ in ihrem Grundvermögen das Wohnhaus an der Philippistraße 3 als „Haus Dr. Wagner“ aufgelistet. Das geht aus einer Jahresrechnung von 1940 aus den Akten des Universitätsarchivs hervor. Lagepläne der Sportwissenschaft verzeichnen es bis heute mitunter als „Wagnerkeller“. Neben der Forschung im Unter- und Erdgeschoss erfüllt ein Teil des Gebäudes noch immer seine ursprüngliche Funktion: Im Obergeschoss wohnt ein ehemaliger Hausmeister der WWU.
WWU Münster (upm/bhe) Autorin: Brigitte Heeke. Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, April 2021.
Bannerfoto: WWU - Peter Leßmann. Neben dem blaugekachelten Kamin im Büro hängt eine Ud, eine Laute aus der arabischen Musikkultur in ihrer türkischen Variante.
Foto im Text: In dem Gebäude aus den 1930er Jahren wohnte zunächst der Direktor des ehemaligen „Instituts für Leibesübungen“. Heute arbeiten hier Wissenschaftler an der Edition vorderorientalischer Musikhandschriften.