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"Gott ist in der Welt, ohne weltlich zu sein"

Mit seinem Buch "Licht über Licht. Dekonstruktion des religiösen Denkens im Islam" hat Ahmad Milad Karimi, Professor für Kalam, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster, nach dreijähriger Arbeit sein Opus magnum vorgelegt.

Sie wollten tatsächlich ein Buch über Gott und die Welt schreiben, oder?

Das stimmt, ich wollte vor allem dem Verständnis des Islam grundlegend nachspüren. Wie lässt sich das religiöse Denken im Islam begreifen? Dabei wollte ich nicht so vorgehen, dass ich eine neue Methode oder Theorie gegen die Tradition entwickele, sondern indem ich mit Hilfe der Dekonstruktion versuche, vorherrschende Konstrukte, Dogmen und Ideengebäude zu zerlegen, sie abzubauen, um sie erneut zusammenzulegen und zu einer Öffnung der Botschaften und Deutungen zu gelangen. Mit anderen Worten: Wir sind nicht die Herren über Koran, Gott oder den Glauben - unsere Lesarten und unser Wissen sind immer vorläufig.

Was bedeutet das für die Botschaft des Korans?

Es gibt, anders als oft behauptet, keine ursprüngliche Botschaft des Korans. Wo sollte sie auch niedergeschrieben worden sein? Es gibt keine absolute Deutung des Korans, sondern nur eine auf jede Zeit und auf eine Frage abgestimmte Botschaft, die sich wie eine Spur zeigt und wieder verbirgt. Sie ist uns nicht einfach vorgegeben, sondern wir müssen sie uns erarbeiten. Die heiligen Texte sind nicht wie Speisen auf dem Tisch, die man einfach verschlingt.

Das heißt, Sie erteilen Bestrebungen, einen Reform-Islam oder europäischen Islam zu schaffen, wie es vielfach gefordert wird, eine Absage?

Ich habe keine Mission. Ja, ich erteile dem und dessen Gegenteil eine Absage von Grund auf, denn diese Herangehensweise ist sehr kurzsichtig und vor allem nicht wissenschaftlich. Dahinter steht implizit die Behauptung, der Reform-Islam sei etwas Besseres, und die Vertreter der Reform-Bewegung wüssten alles besser. Ich habe aber Probleme mit der totalitären Besserwisserei in Religion und Wissenschaft. Das religiöse Denken, die keine politische Instruktion ist, besteht darin, die Wahrheit zu umkreisen, so wie die Pilger in Mekka die Kaaba umkreisen. Darin besteht für mich die Bewegung der Dekonstruktion, die Reformkritik und zugleich Reform bedeutet.

Dahinter steht ein hoher Anspruch….

Genau genommen ist es eine Zumutung, eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Die Schönheit der Religion besteht darin, mit etwas Größerem zu tun zu haben, als wir Menschen es sind. Ich sage nicht: Ich bin aufgeklärt, und alle anderen sind die Vorgestrigen, die Bösen. Das ist billiges Schwarz-Weiß-Denken. Gerade die, die uns am meisten Sorgen machen, also die Fundamentalisten, Islamisten und Fanatiker, brauchen den Dialog am meisten. Wir haben ihnen einen großen Schatz an Ideen und Gedanken anzubieten.

Was ist der Koran für Sie?

Der Koran ist Offenbarung und Wort Gottes, aber er ist nicht abschließend erschließbar, sondern ein Werk des Unverständnisses und der Mehrdeutigkeit. Man hat immer angenommen, dass es einen Koran hinter dem Koran gebe, als wenn Gott seine Botschaft nicht deutlich sagen könnte. Die Schönheit der Offenbarung besteht im Gleichnis, und die Gleichnisse muss man immer wieder neu erzählen.

Und wer ist der Autor des Korans?

Der Koran ist die Rede Gottes, aber Gott ist nicht der Autor, der sein Werk mit einer bestimmten Botschaft abgeschlossen hat und somit hinter dem Text steht. Gott ist immer der Redner, dessen Botschaft mit dem Lesen des Korans erst entsteht. Der Koran ist sein lebendiges Wort, aber der, der es vermittelt hat, ist Muhammad. Er bedient sich der Sprache seines Propheten, spricht aber selbstverständlich nicht arabisch. Man kann und darf an den Koran mit modernen exegetischen Methoden herangehen, muss aber auch die ganze Bandbreite berücksichtigen. Entscheidend ist, wie wir heute mit dem Imperativ des Korans umgehen.

Die zentrale Frage lautet: Gibt es einen Gott?

Gott gibt es im buchstäblichen Sinne nicht, er ist kein Gegenstand neben anderen Gegenständen. Gott ist in der Welt, ohne weltlich zu sein. Die Weise, wie er sich als Gott zeigt, ist allein seine Gegenwart, das, was unverfügbar verfügbar ist. Ich habe ihn niemals in der Tasche. Wir leben in der Hingabe zu Gott, über die wir nicht verfügen können. Der Islam ist kein Monotheismus, denn numerisch kann man nicht von einem Gott reden. Stattdessen geht es um seine Einzigkeit, die nicht einmal monotheistisch verfügbar werden kann. Es gibt einen Gott, den es nicht gibt.

Muss der Islam noch durch die Aufklärung gehen?

Die große Zeit des Islam war die Zeit der Wissenschaft im Mittelalter, in der es ein wahrhaftiges Streben nach der Wahrheit gab. Die großen muslimischen Philosophen haben damals die Aufklärung mit vorbereitet. Die Stärke des Islams als Religion sind seine klare Idee und seine Öffnung für das Plausible. Er ist ein Licht, das andere erleuchten und sie Helligkeit erfahren lassen kann, statt ihnen Angst zu machen. Die Philosophie kann eine Instanz der Korrektur und der Aufklärung sein, ob das jeweils Geglaubte noch adäquat vorstellbar ist.


Ahmad Milad Karimi: „Licht über Licht: Dekonstruktion des religiösen Denkens im Islam.“ 952 Seiten, 49 Euro. Verlag Karl Alber.

WWU Münster (upm/vk). Dieses Interview stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 14. April 2021.

Foto: WWU - Gerd Felder. Ahmad Milad Karimi, Professor für Kalam, islamische Philosophie und Mystik am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster, hat ein opulentes Werk über Gott und die Welt geschrieben.