Bestimmte Ameisenarten machen es sich leicht: Sie leben in den Kolonien anderer Ameisenarten und nutzen deren Ressourcen zu ihrem eigenen Vorteil. Diese Art des Sozialparasitismus ist im Laufe der Evolution mehrfach entstanden, unter anderem bei einigen Blattschneiderameisen der Gattung Acromyrmex.
Ein internationales Forscherteam um den Biologen Dr. Lukas Schrader von der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster hat jetzt gezeigt, dass Teile des Erbguts dieser Sozialparasiten verloren gegangen sind. Diese sogenannte Genom-Erosion wirkt sich besonders auf für nichtparasitische Ameisen wichtige Gene wie etwa die Geruchsrezeptoren aus, die bei Ameisen im Normalfall die Kommunikationsgrundlage bilden.
Die Veränderungen deuten darauf hin, dass bei der Entstehung von Sozialparasitismus die gleichen evolutionsbiologischen Mechanismen wie bei der Entwicklung von nicht sozialem („klassischem“) Parasitismus wirken. Die Studie ist im Fachmagazin „Nature Communications“ veröffentlicht.
Um die Veränderungen im Erbgut der sozialparasitären Ameisenarten ausfindig zu machen, verglichen die Wissenschaftler die Genome von drei sozialparasitären Ameisenarten mit denen zweier Wirtarten. „Bereits vor über 100 Jahren wurde die Evolution von Sozialparasitismus als degenerativer Prozess beschrieben, da bestimmte äußere Merkmale der Arten verschwanden oder verkümmerten. Wir zeigen jetzt zum ersten Mal, dass auch die Genome der Arten Spuren von Degeneration aufweisen“, erklärt Erstautor Lukas Schrader, der am Institut für Evolution und Biodiversität der WWU forscht.
Zudem trügen die Ergebnisse dazu bei, zu verstehen, wie sich Veränderungen im Genom auf Organismen auswirken - schließlich gäben sie auch neue Einblicke in die molekulare Evolution von Sozialparasitismus.
Methode und Ergebnisse im Detail
Schon der Naturforscher Charles Darwin fand sozialparasitische Ameisen „in vielerlei Hinsicht verblüffend“, wie er 1874 in einem Brief an den Psychiater, Neurologen und Ameisenforscher Auguste Forel schrieb. Grund für diese Verblüffung war die außergewöhnliche Lebensweise der Insekten. Als Sozialparasiten haben sich einige Ameisenarten darauf spezialisiert, die Kolonien anderer Arten zu infiltrieren und auszunutzen.
Mit den neuen Lebensbedingungen als Parasit geht bei den Ameisenarten in der Regel eine Veränderung äußerlicher Merkmale einher. Fast alle Arten haben zum Beispiel verkümmerte Kauwerkzeuge oder nur noch einen dünnen, unpigmentierten Chitinpanzer. Viele Arten haben außerdem vollständig aufgehört Arbeiterinnen zu produzieren.
Bislang ist allerdings kaum erforscht, inwieweit auch das Genom solcher Arten verändert ist. Um diesen möglichen Veränderungen auf die Spur zu kommen, sequenzierte und verglich das internationale Forscherteam das Erbgut von drei sozialparasitären Blattschneiderameisen der Gattung Acromyrmex (A. charruanus, A. insinuator, Pseudoatta argentina) mit denen ihrer zwei Wirte (A. heyeri, A. echinatior).
Zudem untersuchten sie die Ameisen mittels Mikro-Computertomographie, um zu zeigen, dass auch die Gehirne der Sozialparasiten reduziert sind. Mit diesem computergestützten Röntgenverfahren erzeugten die Wissenschaftler sogar dreidimensionale Aufnahmen der Ameisenköpfe.
„Wir stellten fest, dass die sozialparasitären Ameisen im Vergleich zu ihren Wirtsarten von einer Genom-Erosion betroffen waren“, erklärt Lukas Schrader. „Dies resultiert vermutlich daraus, dass bestimmte soziale Merkmale bei den sozialparasitären Ameisenarten überflüssig geworden sind.“
So wirkte sich die genetische Erosion vor allem auf die Geruchsrezeptoren der sozialparasitären Arten aus, die bei normalen Ameisen für die komplexe chemische Kommunikation nötig sind. Am stärksten war die genetische Erosion bei P. argentina, bei der auch der Sozialparasitismus am stärksten ausgeprägt ist.
Die gefundenen Veränderungen in den Genomen der Sozialparasiten zeigen zudem Parallelen zu Veränderungen, die bereits von anderen Parasiten bekannt sind. Dazu zählen Bettwanzen oder bakterielle Endosymbionten – Bakterien, die sich an das Leben in einer Wirtszelle angepasst haben. Für Lukas Schrader und das Forscherteam liefern die Ergebnisse Hinweise darauf, dass bei der Entstehung von Sozialparasitismus die gleichen evolutionsbiologischen Mechanismen wie bei der Entstehung von „regulärem“ Parasitismus wirken.
WWU Münster (upm/jah)
Foto: Lukas Schrader. Dreidimensionale Aufnahmen der Gehirne und Kopfe der Wirtsameise A. heyeri (oben) und der sozialparasitären Art P. argentina. Gelb markiert sind die Geruchsrezeptoren der Ameisen.