Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Alles in meiner Erinnerung spielt sich vor der Kulisse dieser Stadt ab (und manchmal auch auf).
Mein erster Kuss? Direkt vor der, sich im Taumeltanz drehenden, Bronzestatue der Martin-Luther-Grundschule.
Meine erste Prügelei? Direkt vor der Einfahrt der Realschule im Kreuzviertel, mit seiner spröden, metallic-grünen Pforte, mit Max Rintelmann, der ein echtes Ass war, dessen Eltern echt nicht besser waren, deren echt schmutzige Scheidung ihren Sohn zu einem Monsterzombie verkommen ließ!
Meine erste Innenstadt Tour? Damals, mit Melli in der dichten Nieselluft der Dille, und ich dachte, dass ich ersticken würde.
Leute kommen, Leute gehen.
Freunde kommen und Freunde gehen, doch ich, ich bin geblieben. Ich musste bleiben. Nach der Schule begann für mich in Sachen Freundschaft, so etwas wie eine anfängliche Vermutung, die mir zur Gewissheit heranzuwachsen drohte. Es war die Gewissheit, dass jeder von ihnen eines guten Tages verschwinden wird. Diverse städtische Zieldestinationen meiner zwischenmenschlichen Beziehungen, staffelten sich hierbei nach Coolheitsgrad sowie Jobqualität, doch so ziemlich jeder wollte nach Berlin.
Man könnte an das Phänomen auch feldforschungsmäßig herangehen, denn ich versichere dir hiermit - hoch und heilig versichere ich dir - dass du, wenn du an einem sonnigen Tag durch die Stadt tingelst, garantiert Sentenzen durch die Luft flattern hörst wie: "Ja, aber weißt du, in Berlin is es halt echt anders, ne. Da kannste dich so richtig austoben, weißte!", sagte sie während sich ihre Gestik gleich ihrer Betonung unsachgemäß auf jedem Vokal ausruhte.
Eine Zeit lang besuchte man sich noch ab und an, doch irgendwann wurden die Gräben der räumlichen Distanz, immer auch zu innerlichen Gräben, als würden zwei Geisterwesen einander versuchen zu berühren, als würden sich lieb gewonnene Menschen in die Transparenz verbiegen, erst recht, als Resa in Schöneberg damit anfing, Schallplatten mit einem Ziegenbesen zu reinigen.
Trennungsschmerz ist nicht immer etwas, das wie eine Abrissbirne auf dich einprasselt. Wenn Trennung fließend abebbt, ist sie kaum wahrzunehmen. Man wird unbemerkt immer etwas kälter, vor allem, wenn die jeweiligen Einzelbewegungen des Lebens zur Routine werden und erst recht, wenn es sich hierbei um das Abreißen von Beziehungen dreht. Sicher können Depressionen nicht ohne Weiteres auf die äußere Realität geschoben werden, aber ganz ohne Kausalitäts-Verhältnis zur Außenwelt findet sie halt auch nicht statt, ne. Sie, die Depression.
Wie sich die Promenade um mich dreht und sich alles an der Promenade immer nur dreht und dreht und abdreht, dreht sich auch mein Leben. Im Leben, dreht es sich nicht immer um einen selbst, aber es dreht sich immer, dieses Leben. Und; in Münster dreht es sich halt etwas spezieller.
Nichts kontra-diktiert die Ordnung dieser Stadt stärker als ihr eigener Widerspruch. Von ästhetischer Bauweise und Bewahrung der Naturschönheit auf der einen, sowie westfälischer Mentalität, auf der anderen Seite. Unglaubliche Nähe, bei unüberwindbarer Distanz. Genau hier liegt die Krux, denn ist man erst einmal im Stadion der Handlungsunfähigkeit angekommen, – man kann nicht schlafen, man kann nicht aufstehen, man könnte nur schlafen, man will nie wieder schlafen, – dann ist dieses Meiden des Nachbarn, dieses Vermeiden auch nur eines netten Wortes (weils wieder regnet), eben jenes kleine Quäntchen in unserer Mentalität, das mir manchmal einfach zu viel ist. Manchmal bricht es mir das Herz, diese Stadt zu lieben. Erst recht, wenn es regnet und die Glocken läuten, denn wenn dem Wetter der Schalk im Nacken sitzt, tragen Augen in dieser Stadt graue Schlieren als Ränder und kein Wort der Zuwendung, stößt in die Selbstwiederholung meines Lebens. Desinfiziert Regen in dieser Stadt Zwischenmenschlichkeit? Desinfiziert altertümlich dreinblickendes Deutsch, die Tatsächlichkeit der „Be*****heit der Dinge“?
Weist du, was auch typisch für diese Stadt ist? Meckern übers Wetter! Doch bei wochenlangem Taubengrau ist nicht einmal dies genug, um auf ein Stelldichein - ein, zwei Worte zu plauschen. Wenns regnet, ist man alleine in dieser Stadt.
Kommen wir zu dem Kern dieser Angelegenheit:
Also, ich wohne in einer der wenigen, zentral gelegenen Einzimmerwohnungen, eine der wenigen, die auf dem heiß umkämpften Markt der Einzimmerwohnungswelt noch übrig blieb. Da sich nicht nur im japanisch geprägten Kulturkreis immer mehr Spät-Adoleszente in ihre eigene Welt zurückziehen, sondern eben auch im westfälischen, kann ich dir eine ganze Menge darüber berichten, was es so heißt, an diesem Lebens-Durchlaufs-Ort wie angewurzelt zu verweilen.
Ganz ehrlich, einen so wenig lebendigen Zustand in einer fast schizophren lebhaften Stadt zu verbringen, ist echt abgefahren. In den Sommersemesterferien, wenn alle von euch woanders sind und in Münster auf einmal alle Rad fahren ohne eine mittelschwere Bedrohung ihrer Umwelt darzustellen, wirkt es hier anfänglich echt idyllisch. Die Vögel hallen deutlicher durch den zäh fließenden Verkehr der Straßen, die von der Sonne gebissene Stoppelwiese vor dem Zwinger ist menschenleer und auf dem Markt kennt sich echt jeder. Michael, der Zeitungsverkäufer vor dem Rewe - der jeden mit seiner in den Höhen brechenden Stimme aufs Herzlichste umarmt und wie eine Institution der Aufrichtigkeit, seinen Platz vor dir einnimmt, um sich zu freuen, dass es dich gibt - hat mehr Zeit für dich und du für ihn. Der Hund von dem dicken Kerl, aus der Nebenstraße an der Ecke zum Bäcker, bellt mich plötzlich viel weniger an. Ich glaube, der Kleine war sogar schon bei einem esoterisch arbeitenden Hundetherapeuten, der den kleinen Speedy auspendelte, um mit erschrecken festzustellen, dass aufgrund eines tief sitzenden Trennungstraumas sein Herzchakra mit seinem Tempelnabel kollidierte. Keiner in der Kioskschlange sagt mehr Zeugs wie: „ Ja, die neue Brause von LimoKollegen* ist echt der Bringer. Die is echt richtig stark, musste mal ausprobieren. Kann ich nur empfehlen, ja“.
In den letzten Jahren habe ich – nur so zum Fun - darauf geachtet, wie lange es dauert, bis auch dieses Bild, das Bild der in die Provinz zurückversetzten Innenstadt, damit beginnt, wie ein Menetekel vor mir her zu schweben, nur um an ganz speziellen Tagen dieselbe Leere in mir zu hinterlassen wie zuvor. Letztes Jahr waren es exakte sechs Wochen, drei Tage, sieben Stunden und dreiundvierzig Sekunden. Jedes Jahr denkst du, du hast es!
„Es liegt an der Stadt, es liegt an den vielen Menschen. Das wird jedem irgendwann zu viel“, brummt es aus deinen Kreiselgedanken.
Zu viel Bewegung, zu viel Heckmeck...doch dann beginnt dir der Geruch von Sonnencreme auf brutzelnder Haut zu fehlen. Dir fehlen die Ersties, wie sie in Schlangenkurven durch die Nacht zischen wie sich ins Leben werfende Betäubte, auf dem Selbstfindungsseminar ihres Lebens. Dir fehlt dein Lächeln, wenn du das Lächeln der anderen vermisst, mögen sie dir auch noch so fern erscheinen. Keiner skatet mehr. Keiner pusht am Hafen mit senkrechten 101a Rollen, auf seinem Deck in Richtung Himmelrot. Keine singenden Menschentrauben, die voll auf halb acht aus der Altstadt geschwemmt werden.
Niemand, der dir zeigt, wie das Leben auch aussehen kann, weißt du.
Das Ding mit den Depris ist manchmal etwas vertrackt. Klar, man könnte leicht auf die Idee kommen, man selbst sei das Problem, aber wenn du krank bist und es dir schlecht geht, gibt es kein wirkliches „Du“ mehr. „Du“, ist dann abgeschaltet. Aus und vorbei der Salat. An solchen Tagen bist du dir dann selbst der ober, mega Endgegner. Wenn Angst wie ein König in dir thront, dessen Wahlspruch lautet „aus dir wird eh nichts werden“ und die Sonne unbarmherzig auf deine „Befindlichkeiten“ ein-dröhnt, um alles etwas sarkastisch wirken zu lassen (Inklusive der kreisrunden, echt guten Laune entlang der Promenade), dann verzeiht mir bitte, dass ich manchmal nicht lächeln kann. Manchmal ist es meine Mentalität, manchmal dieses Gefühl in einer Blase zu leben. Aber nie seid ihr der Grund!
Ich vermisse euch jetzt schon Leute.
...Gut, okay. Das wäre jetzt ein guter Schluss, aber eine kleine Kleinigkeit habe ich da noch auf dem Herzen:
Heute geht es mir besser. Besser als noch vor einigen Jahren. Ich komme klar, weißt du. Keine Sorge. Aber, genau aus diesem Beweggrund ... also ... wie wäre es ...
Also, wie wäre es, wenn wir dieses Jahr einfach alle hierbleiben, nicht (nur) heimkehren, nicht wegfliegen oder wegfahren, sondern einfach hierbleiben?
Wer von euch Partypeople mag hier bleiben, um sich gemeinsam mit mir die abgefahrenste Wiederauferstehungsparty der letzten einhundert, ach was sage ich, mindestens dreihundert Jahre zu geben? Yiiiiihaaaa!!!
Am Siebten ist die Impfpriorisierung aufgehoben,
if you don't Know, na yu Know, aiiight!