Sehr geehrter Herr Schnappauf,
sehr geehrte Frau Professorin Scholz,
sehr geehrte Ratsmitglieder,
meine Damen und Herren,
der
Klimawandel, die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen für
Pflanzen und Tiere und ein schier unersättlicher Ressourcenhunger –
angesichts dessen müssen wir uns fragen, warum wir zu sehr im Heute und
für das Heute leben, warum die Menschheit so sehr von der Substanz zehrt
und warum sie zu wenig auch an morgen denkt. Wir müssen eigene
Verhaltensweisen infrage stellen. Denn das steht am Anfang aller
Anstrengungen, wenn wir das Prinzip der Nachhaltigkeit wirklich ernst
nehmen.
Dass wir tatsächlich in gewissem Sinne an einem Anfang
stehen, das vermittelt auch das Motto Ihrer Jahreskonferenz. Es lautet:
„Aufbruch in ein Jahrzehnt der Nachhaltigkeit“. Mit dieser Haltung
knüpfen Sie daran an, dass UN-Generalsekretär António Guterres dieses
Jahrzehnt zur „Dekade des Handelns“ erklärt hat, um die internationale
Staatengemeinschaft aufzurütteln, weil sie Gefahr läuft, die
Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu verfehlen. Wir haben das ja auch
auf der UNO-Konferenz 2019 sehr ausführlich besprochen.
Was wir
bisher tun, reicht schlichtweg nicht aus. Das ist umso bedauerlicher,
als wir seit langem wissen, dass die Kosten des Nichthandelns bzw. des
Zuwenighandelns die Kosten des gebotenen Handelns zugunsten des Klima-
und Ressourcenschutzes zunehmend übersteigen. Wir leben weltweit auf
Kosten jüngerer und künftiger Generationen. Das ist einfach die
bedrückende Wahrheit. Daraus müssen wir die notwendigen Konsequenzen
ziehen und die 20er Jahre zu einem Jahrzehnt der Nachhaltigkeit machen.
Das
verlangt, dass wir jetzt über die Bewältigung der Coronaviruspandemie
hinausdenken, wie es der Rat für Nachhaltige Entwicklung im Übrigen
schon vor einem Jahr eingefordert hat. „Raus aus der Corona-Krise im
Zeichen der Nachhaltigkeit“ – so haben Sie es damals formuliert. Das
bedeutet, dass wir uns nicht damit begnügen dürfen, irgendwie zum Stand
vor der Pandemie zurückzukehren, sondern dass wir alles daransetzen
müssen, die wirtschaftliche und soziale Erholung von der Pandemie so zu
nutzen, dass unsere Art zu leben, zu wirtschaften und zu arbeiten
innovativer, digitaler, resilienter, klimafreundlicher, insgesamt also
nachhaltiger wird. Dazu müssen wir den Mut zu einer echten
Transformation aufbringen.
Daher ist es wichtig, dass wir in
Deutschland nicht allein auf die kurzfristig notwendigen Maßnahmen der
Krisenbewältigung, sondern mit gleicher Kraft auch auf langfristig
angelegte Investitionen gesetzt und hierzu im letzten Jahr auch ein
viele Milliarden schweres Paket auf den Weg gebracht haben. Möglich
wurde das nicht zuletzt dank der soliden Haushaltspolitik der Jahre vor
der Pandemie, die uns Handlungsspielräume für akute Krisenhilfen wie
auch für Zukunftsinvestitionen eröffnet hat.
Wohlstand, soziale
Sicherheit und ein Leben in einer lebenswerten Umwelt – das sind keine
Selbstverständlichkeiten, sondern das erfordert die stete Bereitschaft
und Fähigkeit zu Veränderungen, zu Innovationen und zu einer gerechten
Verteilung von Chancen und Belastungen heute und morgen. Wir müssen der
Zukunft gegenüber der Gegenwart zu ihrem Recht verhelfen. Dieses Prinzip
formulierte die Brundtland-Kommission bereits in ihrem berühmten
Bericht von 1987 als „eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der
heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger
Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“
Es
ist genau dieser Gedanke der Generationengerechtigkeit, den auch das
Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 24. März 2021
deutlich unterstrichen hat. Denn auch das Klimaschutzgesetz ist als eine
Art Generationenvertrag zu verstehen. Konkret betrifft das zum Beispiel
den Kohleausstieg, die Energiewende, die CO2-Bepreisung oder die Förderung der Elektromobilität.
Die
Bundesregierung hat umgehend auf den Gerichtsbeschluss reagiert und
wichtige Änderungen des Klimaschutzgesetzes mit noch ehrgeizigeren
Zielen beschlossen. Das nationale Etappenziel zur Emissionsreduzierung
für 2030 wird um zehn Prozentpunkte auf minus 65 Prozent gegenüber 1990
angehoben. Bis 2040 gilt ein neues nationales Klimaschutzziel von
mindestens minus 88 Prozent, ebenfalls gegenüber 1990. Bereits bis 2045
sind die Treibhausgasemissionen so weit zu mindern, dass wir
Nettotreibhausgasneutralität erreichen. Aus den jährlichen
Minderungszielen ab 2030 ergibt sich ein konkreter Minderungsweg für die
Folgejahre.
Das sind wichtige Ziele. Um sie auch tatsächlich zu
erreichen, brauchen wir entschlossene und zahlreiche Maßnahmen in allen
Sektoren. Die Bundesregierung wird dazu ein Sofortprogramm 2022
vorlegen. Die Schwerpunkte liegen in den Bereichen Industrie, Mobilität,
Landwirtschaft und im Gebäudesektor – also in Bereichen, in denen die
CO2-Einsparpotenziale besonders hoch sind. Zur Finanzierung
haben wir mit dem Klimaschutzprogramm und dem Konjunkturprogramm bis
heute bereits mehr als 80 Milliarden Euro für Klimaschutzmaßnahmen
bereitgestellt. Außerdem prüfen wir den Abbau klimaschädlicher
Subventionen.
Das Bundes-Klimaschutzgesetz stellt also als eine
Art Generationenvertrag sicher, dass die Klimaschutzlasten angemessen
verteilt werden. Gerade auch in diesem Zusammenhang bin ich sehr froh
über die Expertise des Nachhaltigkeitsrats und der Leopoldina und danke
Ihnen sehr für Ihre Stellungnahme zur Klimaneutralität. Ich verspreche
Ihnen, dass die Bundesregierung sich sehr sorgfältig mit Ihren
Empfehlungen und Anregungen auseinandersetzen wird.
Ich habe auch
nicht vergessen, dass Sie auf Ihrer Jahreskonferenz 2019 unter anderem
auch über Nachhaltigkeit als Staatsziel diskutiert haben, einen äußerst
anspruchsvollen Ansatz, der – dessen bin ich sicher – noch weiter
intensiv diskutiert werden wird. Auch in dieser verfassungspolitischen
Debatte sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, wie es gelingen
kann, Belastungen nicht in die Zukunft zu verschieben. Ich glaube, wir
alle wissen, dass das dringender denn je ist.
Machen wir uns in
diesem Zusammenhang klar, dass Kinder, die heute geboren werden, gute
Chancen haben, das Jahr 2100 zu erleben. Was so klingt, als ob es in
weiter Ferne liegt, ist in Wahrheit greifbar und gestaltbar. Verstehen
wir das, dann wird uns auch klar, dass das, was wir jetzt tun oder jetzt
unterlassen, das Erbe ausmacht, das wir unseren Kindern und Enkeln
hinterlassen.
Ihnen gute Perspektiven für ihr Leben zu bieten –
das ist deshalb der Anspruch der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Mit
ihr setzt die Bundesregierung den Gedanken der Nachhaltigkeit in
politisches Handeln um. Wir haben Ziele und Maßnahmen für alle
17 Nachhaltigkeitsbereiche der Agenda 2030 definiert. Im März hat das
Bundeskabinett die Weiterentwicklung der Strategie beschlossen.
Vorangegangen waren zwei Dialogphasen seit 2019, an denen sich sehr
viele beteiligt haben. Ich bin allen, die mit ihren Anregungen zur
Weiterentwicklung der Strategie beigetragen haben, sehr, sehr dankbar.
In
dieser weiterentwickelten Strategie haben wir neue Ziele und
Indikatoren festgelegt – unter anderem zur internationalen
Pandemieprävention oder zum Breitbandausbau – und bei mehreren bereits
bestehenden Zielen die Messlatte noch einmal höher gehängt. So soll etwa
der Flächenverbrauch für Siedlung und Verkehr bis 2050 bei netto null
liegen.
Die Nachhaltigkeitsstrategie belegt, dass nachhaltige
Entwicklung noch nie so breit und tief in der Politik verankert war, wie
das heute der Fall ist. Doch zugleich belegt sie auch, wie – im
Wortsinne – not-wendig sie war. Denn die Analysen des
Statistischen Bundesamts zeigen mehr als deutlichen Handlungsbedarf. Bei
18 von insgesamt 75 Zielen bis 2030 gibt es eine Lücke von mehr als
20 Prozent zum festgelegten Ziel. Sieben Indikatoren entwickeln sich
sogar in die falsche Richtung – beispielsweise der Endenergieverbrauch
im Güter- und Personenverkehr oder die CO2-Emissionen des privaten Konsums.
Nach
Empfehlung auch des Nachhaltigkeitsrates haben wir sechs
Transformationsbereiche festgelegt, in denen der Handlungsbedarf
besonders dringend und sektorübergreifend ist. Das gilt für so
unterschiedliche Felder wie die Energiewende und den Klimaschutz, die
Kreislaufwirtschaft und eine schadstofffreie Umwelt. Es gilt ebenso für
nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, für die Bereiche Bauen und
Verkehr und natürlich immer dann, wenn es um das Wohl der Menschen und
um soziale Gerechtigkeit geht. Fortschritte in jedem dieser Bereiche
bringen uns auch bei einer Vielzahl globaler Nachhaltigkeitsziele voran.
Dabei müssen wir beachten, dass sich die notwendigen Veränderungen in
der Regel nicht durch einzelne Ministerien in ihren jeweiligen
Politikbereichen erreichen lassen, sondern dass das Ganze nur mit
ressortübergreifender Zusammenarbeit gelingen kann. Verkehrs- und
Umweltpolitik können Emissionen reduzieren, der Einsatz von Holz kann
Neubauten nachhaltiger gestalten; und so gibt es vieles mehr. Die
Nachhaltigkeitsstrategie appelliert an uns alle, das Offensichtliche,
das wir uns vorgenommen haben, auch tatsächlich möglich zu machen.
Doch
neben dem Willen und der Fähigkeit hierzu braucht es schlichtweg auch
Geld. Deshalb gilt es auch die Haushalts- und Finanzpolitik am
Nachhaltigkeitsprinzip auszurichten – zum einen, damit auch kommende
Generationen genügend Haushalts- bzw. Handlungsspielräume haben, und zum
anderen, weil die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel noch stärker
als bislang für eine nachhaltige Entwicklung genutzt werden müssen. Dazu
kann mehr Transparenz über den Zusammenhang zwischen den Zielen der
Nachhaltigkeitsstrategie und den haushaltspolitischen Maßnahmen
beitragen.
Der Bund hat bisher Green Bonds in Höhe von rund
17 Milliarden Euro ausgegeben. Bei den Green Bonds ist eine
nachhaltigkeitsbezogene Kennzeichnung von Teilen des Bundeshaushalts
bereits gut gelungen. Anfang Mai hat die Bundesregierung eine Strategie
für nachhaltige Finanzierung mit dem Ziel beschlossen, Investitionen für
Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu mobilisieren und zugleich die
zunehmenden Klimarisiken für das Finanzsystem in den Blick zu nehmen.
Denn es geht auch darum, die Finanzmärkte stabil zu halten.
Bei
all dem sehen wir, wie wichtig nationales Engagement – auch in
Deutschland – ist, aber wir sehen auch, dass sich eine nachhaltige
Entwicklung am Ende natürlich nur global erreichen lässt. Daher setzt
sich Deutschland konsequent für multilaterales Handeln ein. Ein
wichtiges Gremium der Vereinten Nationen hierfür ist das High-level
Political Forum on Sustainable Development. Dieses Forum überprüft, wie
weit die Staaten bei der Umsetzung der Agenda 2030 gekommen sind. Im
Juli wird Deutschland seinen zweiten freiwilligen Staatenbericht
vorlegen.
Deutschland hat im vergangenen Jahr auch die deutsche
EU-Ratspräsidentschaft dazu genutzt, Nachhaltigkeit voranzubringen –
unter anderem mit dem EU-Klimagesetz, mit der Biodiversitäts- und der
Waldstrategie. Mindestens 30 Prozent der Mittel aus dem Mehrjährigen
Finanzrahmen der EU und des zusätzlichen Aufbauprogramms „Next
Generation EU“ sollen klimafreundlichen Investitionen dienen. Mit dem
Green Deal hat die Europäische Kommission ein neues Zukunftsmodell
vorgestellt. Es soll dazu dienen, Europa bis 2050 zu einem
klimaneutralen, ressourcenschonenden Kontinent zu machen, der gerade
deshalb wirtschaftlich wettbewerbsfähig und sozial stark ist.
Meine
Damen und Herren, das Leitprinzip der Nachhaltigkeit betrifft uns alle.
In letzter Konsequenz bedeutet das, tatsächlich alle Menschen auf dem
Weg zu einer besseren, nachhaltigen Zukunft mitzunehmen. „Leave no one
behind“ – so verlangt es auch die Agenda 2030. In diesem Sinne bereiten
Sie, der Rat für Nachhaltige Entwicklung, das Gemeinschaftswerk
Nachhaltigkeit vor, das im Frühjahr 2022 starten soll und zum Auslöser
für eine neue gesellschaftliche Dynamik werden kann, indem es bereits
bestehendes Engagement als Vorbild noch sichtbarer macht und zugleich
neues Engagement fördert, auch neue Akteure gewinnt und damit zu neuen
Kooperationen bewegt.
Die Vorbereitung dieses Gemeinschaftswerks
reiht sich, wie ich finde, wunderbar in 20 überaus aktive Jahre ein, auf
die der Nachhaltigkeitsrat inzwischen zurückblicken kann. Daher möchte
ich auch die Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu diesem Jubiläum zu
gratulieren. In den letzten 15 Jahren habe ich an jeder Jahreskonferenz
des Rates für Nachhaltige Entwicklung teilgenommen. Sie können daran,
glaube ich, ablesen, dass Sie als notwendigerweise kritische, aber stets
konstruktive Ratgeber überaus willkommen sind – bei der Bundesregierung
und auch bei mir ganz persönlich. Ich bin dem Nachhaltigkeitsrat sehr
dankbar dafür, dass er unermüdlich auf den Handlungsbedarf für mehr
Nachhaltigkeit hinweist und dies auch jeweils mit überzeugenden
Vorschlägen für das weitere Vorgehen verbindet.
Sie werben ja
auch außerhalb der Politik nachdrücklich – um nicht zu sagen:
nachhaltig – für Ihr Thema. Es ist Ihr großes Verdienst, dass der
Nachhaltigkeitsrat mit seinen Initiativen und Foren zum Dialog und zum
Mitmachen motiviert. Denn der Weg zu mehr Nachhaltigkeit lässt sich nur
mit breiter Unterstützung und großer Gemeinsamkeit gehen. Daher nochmals
herzlichen Dank und weiterhin viel Erfolg und alles Gute für Sie.
Die Bundesregierung / Dr. Angela Merkel