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Nachhaltige Entwicklung - zum Tag der Umwelt

Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der 20. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 8. Juni 2021



Sehr geehrter Herr Schnappauf,
sehr geehrte Frau Professorin Scholz,
sehr geehrte Ratsmitglieder,
meine Damen und Herren,

der Klimawandel, die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen für Pflanzen und Tiere und ein schier unersättlicher Ressourcenhunger – angesichts dessen müssen wir uns fragen, warum wir zu sehr im Heute und für das Heute leben, warum die Menschheit so sehr von der Substanz zehrt und warum sie zu wenig auch an morgen denkt. Wir müssen eigene Verhaltensweisen infrage stellen. Denn das steht am Anfang aller Anstrengungen, wenn wir das Prinzip der Nachhaltigkeit wirklich ernst nehmen.

Dass wir tatsächlich in gewissem Sinne an einem Anfang stehen, das vermittelt auch das Motto Ihrer Jahreskonferenz. Es lautet: „Aufbruch in ein Jahrzehnt der Nachhaltigkeit“. Mit dieser Haltung knüpfen Sie daran an, dass UN-Generalsekretär António Guterres dieses Jahrzehnt zur „Dekade des Handelns“ erklärt hat, um die internationale Staatengemeinschaft aufzurütteln, weil sie Gefahr läuft, die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu verfehlen. Wir haben das ja auch auf der UNO-Konferenz 2019 sehr ausführlich besprochen.

Was wir bisher tun, reicht schlichtweg nicht aus. Das ist umso bedauerlicher, als wir seit langem wissen, dass die Kosten des Nichthandelns bzw. des Zuwenighandelns die Kosten des gebotenen Handelns zugunsten des Klima- und Ressourcenschutzes zunehmend übersteigen. Wir leben weltweit auf Kosten jüngerer und künftiger Generationen. Das ist einfach die bedrückende Wahrheit. Daraus müssen wir die notwendigen Konsequenzen ziehen und die 20er Jahre zu einem Jahrzehnt der Nachhaltigkeit machen.

Das verlangt, dass wir jetzt über die Bewältigung der Coronaviruspandemie hinausdenken, wie es der Rat für Nachhaltige Entwicklung im Übrigen schon vor einem Jahr eingefordert hat. „Raus aus der Corona-Krise im Zeichen der Nachhaltigkeit“ – so haben Sie es damals formuliert. Das bedeutet, dass wir uns nicht damit begnügen dürfen, irgendwie zum Stand vor der Pandemie zurückzukehren, sondern dass wir alles daransetzen müssen, die wirtschaftliche und soziale Erholung von der Pandemie so zu nutzen, dass unsere Art zu leben, zu wirtschaften und zu arbeiten innovativer, digitaler, resilienter, klimafreundlicher, insgesamt also nachhaltiger wird. Dazu müssen wir den Mut zu einer echten Transformation aufbringen.

Daher ist es wichtig, dass wir in Deutschland nicht allein auf die kurzfristig notwendigen Maßnahmen der Krisenbewältigung, sondern mit gleicher Kraft auch auf langfristig angelegte Investitionen gesetzt und hierzu im letzten Jahr auch ein viele Milliarden schweres Paket auf den Weg gebracht haben. Möglich wurde das nicht zuletzt dank der soliden Haushaltspolitik der Jahre vor der Pandemie, die uns Handlungsspielräume für akute Krisenhilfen wie auch für Zukunftsinvestitionen eröffnet hat.

Wohlstand, soziale Sicherheit und ein Leben in einer lebenswerten Umwelt – das sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern das erfordert die stete Bereitschaft und Fähigkeit zu Veränderungen, zu Innovationen und zu einer gerechten Verteilung von Chancen und Belastungen heute und morgen. Wir müssen der Zukunft gegenüber der Gegenwart zu ihrem Recht verhelfen. Dieses Prinzip formulierte die Brundtland-Kommission bereits in ihrem berühmten Bericht von 1987 als „eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“

Es ist genau dieser Gedanke der Generationengerechtigkeit, den auch das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 24. März 2021 deutlich unterstrichen hat. Denn auch das Klimaschutzgesetz ist als eine Art Generationenvertrag zu verstehen. Konkret betrifft das zum Beispiel den Kohleausstieg, die Energiewende, die CO2-Bepreisung oder die Förderung der Elektromobilität.

Die Bundesregierung hat umgehend auf den Gerichtsbeschluss reagiert und wichtige Änderungen des Klimaschutzgesetzes mit noch ehrgeizigeren Zielen beschlossen. Das nationale Etappenziel zur Emissionsreduzierung für 2030 wird um zehn Prozentpunkte auf minus 65 Prozent gegenüber 1990 angehoben. Bis 2040 gilt ein neues nationales Klimaschutzziel von mindestens minus 88 Prozent, ebenfalls gegenüber 1990. Bereits bis 2045 sind die Treibhausgasemissionen so weit zu mindern, dass wir Nettotreibhausgasneutralität erreichen. Aus den jährlichen Minderungszielen ab 2030 ergibt sich ein konkreter Minderungsweg für die Folgejahre.

Das sind wichtige Ziele. Um sie auch tatsächlich zu erreichen, brauchen wir entschlossene und zahlreiche Maßnahmen in allen Sektoren. Die Bundesregierung wird dazu ein Sofortprogramm 2022 vorlegen. Die Schwerpunkte liegen in den Bereichen Industrie, Mobilität, Landwirtschaft und im Gebäudesektor – also in Bereichen, in denen die CO2-Einsparpotenziale besonders hoch sind. Zur Finanzierung haben wir mit dem Klimaschutzprogramm und dem Konjunkturprogramm bis heute bereits mehr als 80 Milliarden Euro für Klimaschutzmaßnahmen bereitgestellt. Außerdem prüfen wir den Abbau klimaschädlicher Subventionen.

Das Bundes-Klimaschutzgesetz stellt also als eine Art Generationenvertrag sicher, dass die Klimaschutzlasten angemessen verteilt werden. Gerade auch in diesem Zusammenhang bin ich sehr froh über die Expertise des Nachhaltigkeitsrats und der Leopoldina und danke Ihnen sehr für Ihre Stellungnahme zur Klimaneutralität. Ich verspreche Ihnen, dass die Bundesregierung sich sehr sorgfältig mit Ihren Empfehlungen und Anregungen auseinandersetzen wird.

Ich habe auch nicht vergessen, dass Sie auf Ihrer Jahreskonferenz 2019 unter anderem auch über Nachhaltigkeit als Staatsziel diskutiert haben, einen äußerst anspruchsvollen Ansatz, der – dessen bin ich sicher – noch weiter intensiv diskutiert werden wird. Auch in dieser verfassungspolitischen Debatte sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, wie es gelingen kann, Belastungen nicht in die Zukunft zu verschieben. Ich glaube, wir alle wissen, dass das dringender denn je ist.

Machen wir uns in diesem Zusammenhang klar, dass Kinder, die heute geboren werden, gute Chancen haben, das Jahr 2100 zu erleben. Was so klingt, als ob es in weiter Ferne liegt, ist in Wahrheit greifbar und gestaltbar. Verstehen wir das, dann wird uns auch klar, dass das, was wir jetzt tun oder jetzt unterlassen, das Erbe ausmacht, das wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen.

Ihnen gute Perspektiven für ihr Leben zu bieten – das ist deshalb der Anspruch der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Mit ihr setzt die Bundesregierung den Gedanken der Nachhaltigkeit in politisches Handeln um. Wir haben Ziele und Maßnahmen für alle 17 Nachhaltigkeitsbereiche der Agenda 2030 definiert. Im März hat das Bundeskabinett die Weiterentwicklung der Strategie beschlossen. Vorangegangen waren zwei Dialogphasen seit 2019, an denen sich sehr viele beteiligt haben. Ich bin allen, die mit ihren Anregungen zur Weiterentwicklung der Strategie beigetragen haben, sehr, sehr dankbar.

In dieser weiterentwickelten Strategie haben wir neue Ziele und Indikatoren festgelegt – unter anderem zur internationalen Pandemieprävention oder zum Breitbandausbau – und bei mehreren bereits bestehenden Zielen die Messlatte noch einmal höher gehängt. So soll etwa der Flächenverbrauch für Siedlung und Verkehr bis 2050 bei netto null liegen.

Die Nachhaltigkeitsstrategie belegt, dass nachhaltige Entwicklung noch nie so breit und tief in der Politik verankert war, wie das heute der Fall ist. Doch zugleich belegt sie auch, wie – im Wortsinne – not-wendig sie war. Denn die Analysen des Statistischen Bundesamts zeigen mehr als deutlichen Handlungsbedarf. Bei 18 von insgesamt 75 Zielen bis 2030 gibt es eine Lücke von mehr als 20 Prozent zum festgelegten Ziel. Sieben Indikatoren entwickeln sich sogar in die falsche Richtung – beispielsweise der Endenergieverbrauch im Güter- und Personenverkehr oder die CO2-Emissionen des privaten Konsums.

Nach Empfehlung auch des Nachhaltigkeitsrates haben wir sechs Transformationsbereiche festgelegt, in denen der Handlungsbedarf besonders dringend und sektorübergreifend ist. Das gilt für so unterschiedliche Felder wie die Energiewende und den Klimaschutz, die Kreislaufwirtschaft und eine schadstofffreie Umwelt. Es gilt ebenso für nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, für die Bereiche Bauen und Verkehr und natürlich immer dann, wenn es um das Wohl der Menschen und um soziale Gerechtigkeit geht. Fortschritte in jedem dieser Bereiche bringen uns auch bei einer Vielzahl globaler Nachhaltigkeitsziele voran. Dabei müssen wir beachten, dass sich die notwendigen Veränderungen in der Regel nicht durch einzelne Ministerien in ihren jeweiligen Politikbereichen erreichen lassen, sondern dass das Ganze nur mit ressortübergreifender Zusammenarbeit gelingen kann. Verkehrs- und Umweltpolitik können Emissionen reduzieren, der Einsatz von Holz kann Neubauten nachhaltiger gestalten; und so gibt es vieles mehr. Die Nachhaltigkeitsstrategie appelliert an uns alle, das Offensichtliche, das wir uns vorgenommen haben, auch tatsächlich möglich zu machen.

Doch neben dem Willen und der Fähigkeit hierzu braucht es schlichtweg auch Geld. Deshalb gilt es auch die Haushalts- und Finanzpolitik am Nachhaltigkeitsprinzip auszurichten – zum einen, damit auch kommende Generationen genügend Haushalts- bzw. Handlungsspielräume haben, und zum anderen, weil die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel noch stärker als bislang für eine nachhaltige Entwicklung genutzt werden müssen. Dazu kann mehr Transparenz über den Zusammenhang zwischen den Zielen der Nachhaltigkeitsstrategie und den haushaltspolitischen Maßnahmen beitragen.

Der Bund hat bisher Green Bonds in Höhe von rund 17 Milliarden Euro ausgegeben. Bei den Green Bonds ist eine nachhaltigkeitsbezogene Kennzeichnung von Teilen des Bundeshaushalts bereits gut gelungen. Anfang Mai hat die Bundesregierung eine Strategie für nachhaltige Finanzierung mit dem Ziel beschlossen, Investitionen für Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu mobilisieren und zugleich die zunehmenden Klimarisiken für das Finanzsystem in den Blick zu nehmen. Denn es geht auch darum, die Finanzmärkte stabil zu halten.

Bei all dem sehen wir, wie wichtig nationales Engagement – auch in Deutschland – ist, aber wir sehen auch, dass sich eine nachhaltige Entwicklung am Ende natürlich nur global erreichen lässt. Daher setzt sich Deutschland konsequent für multilaterales Handeln ein. Ein wichtiges Gremium der Vereinten Nationen hierfür ist das High-level Political Forum on Sustainable Development. Dieses Forum überprüft, wie weit die Staaten bei der Umsetzung der Agenda 2030 gekommen sind. Im Juli wird Deutschland seinen zweiten freiwilligen Staatenbericht vorlegen.

Deutschland hat im vergangenen Jahr auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft dazu genutzt, Nachhaltigkeit voranzubringen – unter anderem mit dem EU-Klimagesetz, mit der Biodiversitäts- und der Waldstrategie. Mindestens 30 Prozent der Mittel aus dem Mehrjährigen Finanzrahmen der EU und des zusätzlichen Aufbauprogramms „Next Generation EU“ sollen klimafreundlichen Investitionen dienen. Mit dem Green Deal hat die Europäische Kommission ein neues Zukunftsmodell vorgestellt. Es soll dazu dienen, Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen, ressourcenschonenden Kontinent zu machen, der gerade deshalb wirtschaftlich wettbewerbsfähig und sozial stark ist.

Meine Damen und Herren, das Leitprinzip der Nachhaltigkeit betrifft uns alle. In letzter Konsequenz bedeutet das, tatsächlich alle Menschen auf dem Weg zu einer besseren, nachhaltigen Zukunft mitzunehmen. „Leave no one behind“ – so verlangt es auch die Agenda 2030. In diesem Sinne bereiten Sie, der Rat für Nachhaltige Entwicklung, das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit vor, das im Frühjahr 2022 starten soll und zum Auslöser für eine neue gesellschaftliche Dynamik werden kann, indem es bereits bestehendes Engagement als Vorbild noch sichtbarer macht und zugleich neues Engagement fördert, auch neue Akteure gewinnt und damit zu neuen Kooperationen bewegt.

Die Vorbereitung dieses Gemeinschaftswerks reiht sich, wie ich finde, wunderbar in 20 überaus aktive Jahre ein, auf die der Nachhaltigkeitsrat inzwischen zurückblicken kann. Daher möchte ich auch die Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu diesem Jubiläum zu gratulieren. In den letzten 15 Jahren habe ich an jeder Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung teilgenommen. Sie können daran, glaube ich, ablesen, dass Sie als notwendigerweise kritische, aber stets konstruktive Ratgeber überaus willkommen sind – bei der Bundesregierung und auch bei mir ganz persönlich. Ich bin dem Nachhaltigkeitsrat sehr dankbar dafür, dass er unermüdlich auf den Handlungsbedarf für mehr Nachhaltigkeit hinweist und dies auch jeweils mit überzeugenden Vorschlägen für das weitere Vorgehen verbindet.

Sie werben ja auch außerhalb der Politik nachdrücklich – um nicht zu sagen: nachhaltig – für Ihr Thema. Es ist Ihr großes Verdienst, dass der Nachhaltigkeitsrat mit seinen Initiativen und Foren zum Dialog und zum Mitmachen motiviert. Denn der Weg zu mehr Nachhaltigkeit lässt sich nur mit breiter Unterstützung und großer Gemeinsamkeit gehen. Daher nochmals herzlichen Dank und weiterhin viel Erfolg und alles Gute für Sie.


Die Bundesregierung / Dr. Angela Merkel