Der Rechtsextremismus wird immer mehr zu einer Bedrohung der Sicherheit in Deutschland: Die Zahl seiner Anhänger stieg auf 33.300, wie aus dem am Dienstag vorgelegten Verfassungsschutzbericht für 2020 hervorgeht. Davon werden 13.300 als gewaltorientiert eingestuft. Nach Darstellung von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erhielt die rechte Szene durch die Corona-Pandemie zusätzlichen Auftrieb. Auch die Gefahren des Linksextremismus sowie des Islamismus schätzte er als hoch ein.
2019 hatte das rechtsextreme Potenzial noch bei 32.080 gelegen. Die Rechtsextremen hätten Seite an Seite mit bürgerlichen Demonstranten protestiert "und dem Protestgeschehen leider zu oft ihren Stempel aufdrücken können", beklagte Seehofer. "Besonders besorgt muss uns machen, dass sich die bürgerlichen Demonstranten nicht klar von den rechtsextremistischen abgegrenzt haben."
Auch der Anstieg der "Reichsbürger und Selbstverwalter" um fünf Prozent sei auf die Proteste rund um die Pandemie zurückzuführen. "Wir müssen nicht nur von einer besonderen Gesundheitslage reden, sondern auch von einer besonderen Sicherheitslage." Die Bedrohungslage habe während der Pandemie zugenommen.
Erstmals widmete sich der Verfassungsschutzbericht in einem Unterkapitel der "Neuen Rechten". Diese versuche "durch einen pseudointellektuellen Anstrich ihr rechtsextremistisches Gedankengut in den öffentlichen Diskurs einzubringen", sagte Seehofer. Damit sollten auch die Grenzen des öffentlich Sagbaren verschoben werden.
"Der Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für unsere offene und vielfältige Gesellschaft", erklärte auch Bundesjustiz- und Familienministerin Christine Lambrecht (SPD). Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland zeigte sich alarmiert. "Der neue Verfassungsschutzbericht zeigt in erschreckendem Maße, dass die Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland weiter gewachsen ist", erklärte Präsident Josef Schuster.
2020 wurden dem Verfassungsschutzbericht zufolge 44.692 politisch motivierte Straftaten registriert. Das ist der höchste Stand seit Einführung der Statistik. Propagandadelikte stellen den Großteil der registrierten Straftaten, sind gegenüber 2019 aber leicht rückläufig. Dagegen nahm die politisch motivierte Gewaltkriminalität von 2832 auf 3365 Straftaten deutlich zu.
Nach Darstellung von Bundesverfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sind die extremistische Aktivitäten während der Corona-Pandemie keineswegs zum Erliegen gekommen. "Extremisten und Terroristen gehen nicht in den Lockdown", sagte der Behördenleiter. Sie hätten nach einer "kurzen Phase der Verunsicherung" zu Beginn des vergangenen Jahres ihre Aktivitäten ins Internet verlagert.
Beim Linksextremismus stieg die Zahl der Gewalttaten laut Seehofer um 34 Prozent. Die Szene agiere zunehmend gewalttätig und enthemmt. Er verwies dabei auf "Kleingruppen", die heimlich und planvoll ihre Taten begingen. Auch beim Islamismus bestehe nach wie vor eine "sehr ernst zu nehmende Bedrohungslage".
Die SPD warf der Union erneut eine Blockade des Demokratiefördergesetzes vor, mit dem auch antirassistische Initiativen gestärkt werden sollen. "Der Verfassungsschutzbericht bestätigt erneut, dass Rechtsextremismus und Antisemitismus die größten Bedrohungen unserer Demokratie sind“, sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Nach Ansicht der Grünen reichen die Mängel bei der Aufklärung rechtsextremistischer Netzwerke weit in die Vergangenheit. "Die bestehenden Strukturen und Vernetzungen wurden jahrelang verkannt, missinterpretiert und unterschätzt", erklärten Fraktionsvize Konstantin Notz und die innenpolitische Sprecherin Irene Mihalic.
Die FDP verlangte eine Neuordnung der Sicherheitsbehörden. Dies gelinge in erster Linie durch eine verbesserte Ausstattung mit hochqualifiziertem Personal und Sachmitteln, erklärte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae.
Die Linke warf dem Verfassungsschutz vor, den Rechtsextremismus lange vernachlässigt zu haben. "Eine Unabhängige Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus wäre zur Aufklärung der Gefährdung der Demokratie die bessere Alternative", erklärte die stellvertretende Parteichefin Martina Renner.
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