Sehr geehrte Frau Bavendamm,
sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundeskabinett und dem Bundestag,
insbesondere liebe Monika Grütters,
sehr geehrter Herr Professor Fabritius,
sehr geehrte Frau Rösch,
meine Damen und Herren,
es
ist mir eine große Freude, das Dokumentationszentrum Flucht,
Vertreibung, Versöhnung heute mit Ihnen zu eröffnen. Über dieses Zentrum
wurde lange und intensiv diskutiert – in Deutschland, aber auch mit
unseren Partnern in Europa. Umso mehr freue ich mich, heute auch die
Botschafter Polens, Tschechiens und Ungarns begrüßen zu können. Danke,
dass Sie gekommen sind.
Die Diskussionen um diesen Ort waren
wahrlich nicht immer einfach. Doch sie waren wichtig. Denn nur so konnte
in einem offenen und dialogorientierten Geist dieser besondere Ort
inmitten Berlins entstehen – als ein Ort des Lernens und der Erinnerung,
mit einer Dauerausstellung und Bibliothek, mit einem Zeitzeugenarchiv
und einem Raum der Stille. Mit diesem Dokumentationszentrum schließt
sich eine Lücke in unserer Geschichtsaufarbeitung.
Zahlen und
Fakten fassen Geschehenes sachlich zusammen. Sie sind wichtig, aber sie
sind eben nicht alles. Denn damit die Dimensionen von Flucht und
Vertreibung nicht abstrakt bleiben, brauchen wir die Berichte derer, die
Flucht und Vertreibung selbst erlebt und erlitten haben, brauchen wir
die Berichte der Zeitzeugen. Deshalb ist es so wichtig, dass das
Dokumentationszentrum mehr als ein Informationszentrum ist. Niemand kann
besser als Sie, liebe Zeitzeugen, vermitteln, was geschehen ist. Sie
wissen, wie es war, unter zum Teil lebensbedrohlichen Umständen fliehen
zu müssen. Sie wissen, was es bedeutete, aus der Heimat vertrieben zu
werden und diesen Verlust ein Leben lang zu tragen – so, wie es Ihnen,
liebe Frau Rösch, widerfahren ist, als Sie aus Ihrer Heimat im
Sudetenland vertrieben wurden. Mit Ihrem Vortrag haben Sie
unterstrichen, warum ein solches Dokumentationszentrum so wichtig ist.
Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.
Mit diesem
Dokumentationszentrum können wir gleichsam ein wenig zu Mitzeugen
individueller Lebensgeschichten werden. Es sind die persönlichen
Schicksale, die uns Flucht und Vertreibung etwas näherbringen und so
Brücken von der Vergangenheit zur Gegenwart entstehen lassen.
Es
kann gar nicht oft genug gesagt werden: Um die richtigen Lehren aus der
Geschichte ziehen zu können, um eine gute Zukunft gestalten zu können,
müssen wir die Erinnerung an vergangenes Leid wachhalten. Erinnerung
braucht Raum. Erinnerung braucht Orte der Information und Orte des
Austauschs. Einen solchen Ort haben wir mit dem Dokumentationszentrum
gewonnen. Wir haben einen würdigen Ort der Erinnerung an Flucht und
Vertreibung gewonnen, der stets bewusst macht: Ohne den von Deutschland
im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebrachten Terror, ohne
den von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruch
der Shoa und ohne den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg
wäre es nicht dazu gekommen, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs und
danach Millionen Deutsche Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung
erleiden mussten. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die
Vertreibungsgeschichte der Deutschen in ihrem historischen Kontext von
Ursache und Folgen eingebettet und nicht isoliert dargestellt wird.
Deswegen
möchte ich heute auch daran erinnern, dass sich morgen, am 22. Juni,
der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal jährt. Wir
gedenken der Opfer und ihres unermesslichen Leids.
Meine Damen
und Herren, das Ende von Flucht oder Vertreibung bedeutete für die
Betroffenen nicht immer das Ende des Leids. In der DDR hatten
Vertriebene über ihr Schicksal gleich ganz zu schweigen, aber auch in
der früheren Bundesrepublik wurde das Thema lange Zeit in der
Öffentlichkeit weitgehend ausgeblendet. Doch über die Jahre und mit
einem größeren zeitlichen Abstand zu den unmittelbaren Kriegsfolgen
entwickelte sich allmählich das Verständnis, dass Schweigen keine
angemessene Form des Umgangs mit den Betroffenen sein kann, sondern im
Gegenteil nur neues Leid schafft, weil es diese Menschen isoliert und
ausgrenzt.
Wir müssen Erinnerung pflegen und einen umfassenden
Dialog darüber führen. Eine überzeugende Begründung hierfür lieferte Jan
Józef Lipski, polnischer Literaturhistoriker und Mitglied der
Solidarność, als er an Günter Grass schrieb: „Wenn wir dies nicht tun,
erlaubt uns die Last der Vergangenheit nicht, in die gemeinsame Zukunft
aufzubrechen.“ Erinnerung ist und bleibt also unsere immerwährende
historische Verantwortung, weil wir nur so eine gute Zukunft gestalten
können.
Zu Erinnerung, Verständigung und Versöhnung tragen Bund
und Länder auch mit der Kulturförderung nach dem
Bundesvertriebenengesetz bei. So fördern wir die Erforschung und
Bewahrung des deutschen Kulturerbes im östlichen Europa. Unsere
Fördermaßnahmen helfen, heimatliche und familiäre Identitäten
wachzuhalten. Damit stärken wir zugleich das Bewusstsein für gemeinsame
europäische Wurzeln und pflegen enge Verbindungen zu unseren östlichen
Nachbarn und Partnern für Verständigung und Versöhnung, die die
Leitlinien dieses Dokumentationszentrums sind.
Dessen
verbindender Charakter zeigt sich insbesondere auch in seiner Funktion
als Vermittler zwischen Wissenschaft und breiter Öffentlichkeit. In
dieser Rolle beansprucht es zu Recht, auch an internationalen Diskursen
über Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung aktiv beteiligt zu werden –
Themen, die heute leider so aktuell sind wie eh und je. Denn heute sind
weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor.
Das
haben wir uns besonders auch gestern vor Augen geführt. Am 20. Juni
begehen wir alljährlich den Weltflüchtlingstag zusammen mit dem
nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Die
Verantwortung für das Erinnern an das Schicksal und die Ursachen von
Flucht und Vertreibung endet nicht. Es bleibt eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, eine lebendige Erinnerungspolitik auch
und gerade für junge Menschen zu pflegen, die nicht mehr die Möglichkeit
haben werden, mit Zeitzeugen zu sprechen.
Die heutige Eröffnung
des Dokumentationszentrums markiert ein neues Kapitel in unserer
Erinnerungspolitik. Dieser Ort lädt – auch jenseits von Gedenktagen –
jeden von uns ein, sich auf Erinnerung einzulassen. Dieser Ort richtet
sich an die Erlebnisgeneration und ihre Kinder und Enkel ebenso wie an
die deutsche, europäische und internationale Öffentlichkeit.
Meine
Damen und Herren, aus der Idee Erika Steinbachs für ein sichtbares
Zeichen ist im Laufe der Jahre durch viel Arbeit, Mühe und Geduld mit
diesem Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung ein weithin
akzeptiertes Projekt geworden.
Ich danke allen Beteiligten, die
sich für das Entstehen dieses Zentrums eingesetzt haben, besonders
Ihnen, liebe Frau Bavendamm, und Ihrem Team.
Ich danke den
Gremienvertretern des Dokumentationszentrums, darunter auch den
Mitgliedern des Bundes der Vertriebenen. Sie begleiten die Entwicklung
dieser Einrichtung seit vielen Jahren mit großer Energie.
Nicht
zuletzt danke ich dem Deutschen Bundestag, der die finanziellen Mittel
für den Aufbau und den Betrieb zur Verfügung gestellt hat.
Und
schließlich danke ich Kulturstaatsministerin Monika Grütters, ihrem
Vorgänger Bernd Neumann sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Ich
danke allen, die daran gearbeitet haben, dem Gedenken an Flucht und
Vertreibung mit einem sichtbaren Ort in unserer Hauptstadt einen
angemessenen und notwendigen Raum in unserer Erinnerungskultur zu geben.
So bleibt mir nur noch, dem Dokumentationszentrum eine rege Resonanz und viele Besucherinnen und Besucher zu wünschen.
Alles Gute und herzlichen Dank.
Dr. Angela Merkel
Die Bundeskanzlerin