Vielen Dank! Liebe Frau Friedländer, es ist so schön, Sie wiederzusehen. Ich habe Sie heute nicht nur vor mir, sondern auch gleich hinter mir. Und genauso schön ist es, dass wir uns am Donnerstag schon wiedersehen, wenn wir gemeinsam den amerikanischen Außenminister hier in Berlin in Empfang nehmen.Sehr geehrter Herr Dr. Lutz,
lieber Luigi Toscano,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
heute
vor genau 80 Jahren – am 22. Juni 1941 – da griff das
nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion an.
Mit dem so genannten Vernichtungskrieg im Osten begann das mörderischste Kapitel des von Deutschland entfesselten Weltkriegs, der allein auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion 24 Millionen Menschenleben forderte. Millionen weitere blieben verletzt, verwaist, körperlich und seelisch verstümmelt zurück. Es sind Zahlen, so unfassbar groß, dass sie eigentlich das menschliche Vorstellungsvermögen sprengen. Und doch steckt hinter jeder Zahl ein Mensch mit seiner ganzen Lebensgeschichte. Das ist genau das, was wir spüren, wenn wir in die Gesichter schauen, die Sie, lieber Luigi Toscano, fotografiert haben.
Es sind Gesichter wie das von Anna Strishkowa aus Kiew. Ihre Eltern wurden direkt nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Sie selbst wurde zum Versuchskind von Dr. Mengele. Um dieses Trauma zu überwinden, wurde sie in der ehemaligen Sowjetunion später selbst Ärztin. Das muss man sich einmal vorstellen. Sie, die mit Ärzten eigentlich nur Schmerz und Verletzung verbinden konnte, entschied sich, andere Menschen heilen zu wollen.Es sind Geschichten wie diese, die uns - und wenn sie das nicht tun, finde ich, ist man kein Mensch – die uns berühren. Die aber auch das Geschehene irgendwie fassbar machen für unseren menschlichen Verstand.
Meine Damen und Herren,
auf dem Weg hierher habe ich mich gefragt, wie es sich wohl anfühlen wird, in einer Bahnhofshalle zwischen bunten Geschäften und schnellen Rollkoffern in die Gesichter von Überlebenden der NS-Verbrechen zu blicken.
Doch ich will das ganz überzeugt sagen: Wenn man hier steht, dann wird einem auch klar: Ihre Porträts, lieber Herr Toscano, gehören genau hierher. Und zwar nicht nur, weil es Bahnhöfe waren, an denen für Millionen jüdischer Frauen, Männer und Kinder der Weg in den Tod begann. Sondern weil diese Bilder das Leben zeigen – und zwar in all seinen Facetten: Den Schmerz und die Narben, die den Überlebenden zugefügt wurden. Aber eben auch die Güte und die Hoffnung, die aus den Gesichtern der Porträtierten sprechen – allem Schrecken des Erlebten zum Trotz.
Und deshalb sind diese Bilder hier am richtigen Platz - mitten im Leben, wo es laut ist, wo viel Bewegung ist, an einem Ort, den hunderttausende Menschen am Tag passieren. Und deshalb, sehr geehrter Herr Dr. Lutz, Ihnen und Ihrem Unternehmen dafür, dass Sie das möglich gemacht haben.
„Das
Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung
heißt Erinnerung“. So lautet eine jüdische Weisheit. Und dieses
erlösende Erinnern kann nicht nur in Museen, in Gedenkstätten oder im
Geschichtsunterricht stattfinden. Es
muss und soll zugänglich sein für alle, an einem Ort wie diesem. Und
vielleicht führt es dazu, dass Menschen im wahrsten Sinne des Wortes
einmal kurz innehalten und sich mit dem beschäftigten, was aus den
Gesichtern dieser Menschen, die hier portraitiert werden, spricht.
Und
umso mehr gilt das, als leider immer weniger Zeitzeuginnen und
Zeitzeugen unter uns sind, diejenigen, die uns mit der Überzeugungskraft
des eigenen Erlebens über das berichten können, das für uns, die wir es
nicht erlebt haben, immer noch unfassbar zu sein scheint.
Und umso glücklicher sind wir, dass Sie heute hierher kommen konnten, sehr geehrte Frau Friedländer. Sie sind nicht nur Zeitzeugin, sondern Sie sind auch so etwas wie die Hüterin unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts.Wann immer es geht, suchen Sie das Gespräch mit jungen Menschen. Sie lassen sie teilhaben an Ihrem Schicksal, das einige der sicherlich grundlegendsten Fragen aufwirft, was nämlich Menschsein überhaupt bedeutet. Damit leisten Sie auch so etwas wie Herzensbildung - und damit unserer Demokratie einen sehr, sehr wertvollen Dienst.
Denn:
Diese Demokratie ist nur so stark wie diejenigen, die sie auch wirklich
verteidigen, gerade in Zeiten wie diesen. Erst letzte Woche hat der
Verfassungsschutz bestätigt, wie sehr die Corona-Pandemie
Rechtsextremismus und antisemitische Stereotype verstärkt hat.
Diejenigen, die mit angehefteten Judensternen oder Schildern wie „Impfen
macht frei“ über unsere Straßen ziehen, sind keine besorgten Bürger.
Sondern Antisemiten. Dies
klar zu sagen und auch danach zu handeln, das ist nicht nur Kernaufgabe
des Staates. Sondern die Pflicht all derjenigen, die sich ein
tolerantes, ein weltoffenes, ein aufgeklärtes Deutschland wünschen, in
dem sich Menschen vor allen Dingen mit einem begegnen, nämlich mit
Respekt. Und ich bin überzeugt: Das ist auch die ganz große Mehrheit in
unserem Land.
Und diese Mehrheit, meine Damen und Herren, hat es selbst in der Hand, das aggressive und das menschenverachtende Geschrei der Minderheit zu regulieren. Denn: Letztlich wird die Lautstärke der Minderheit reguliert durch die Lautstärke der Mehrheit. Wenn wir uns das klar machen, dann wird deutlich, worin unser aller Aufgabe liegt: nicht zu schweigen, nicht gleichgültig zu sein, wenn uns Hass, Hetze und Intoleranz begegnen. Sondern einzustehen „Gegen das Vergessen“ - und für Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit.
Grußwort von Außenminister Heiko Maas zur Eröffnung der Ausstellung „Gegen das Vergessen“
Auswärtiges Amt
Foto: Bundesaußenminister Heiko Maas© Thomas Imo/photothek.net