Unter
ihrer Herrschaft werden Medienschaffende ermordet und willkürlich
inhaftiert, sie drohen und verunglimpfen Journalistinnen und
Journalisten, zensieren Medien oder lassen sogar ein Flugzeug entführen,
um Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen.
Mit Viktor Orbán steht zum ersten Mal ein EU-Ministerpräsident auf der Liste, der seit seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 Pluralismus und Unabhängigkeit der Medien in Ungarn angreift. Ebenfalls neu dabei sind der immer wieder gegen Reporterinnen und Reporter hetzende brasilianische Präsident Jair Bolsonaro und der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman, dem RSF unter anderem wegen des Mordes an Jamal Khashoggi Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwirft. Auch die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam steht neu auf der Liste. In der chinesischen Sonderverwaltungszone musste mit der Zeitung Apple Daily im Juni ein Symbol der Pressefreiheit ihren Betrieb einstellen. Daneben finden sich auf der Liste viele langjährige „Feinde der Pressefreiheit“. Zu ihnen gehören etwa Eritreas Präsident Isaias Afewerki, Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, Syriens Machthaber Baschar al-Assad und der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko.
„In allen Weltregionen sind neue Namen hinzugekommen. Ihre Unterdrückungsmethoden sind verschieden, dienen aber demselben Zweck: Kritische Berichterstattung um jeden Preis zu verhindern. Darunter leiden die Journalistinnen und Journalisten, die trotzdem mutig weiterrecherchieren, aber auch die Bevölkerung, der damit der gerade in Zeiten einer globalen Pandemie so wichtige Zugang zu unabhängigen Informationen verwehrt wird“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Erschreckend ist auch, dass die Verantwortlichen trotz brutaler Verbrechen oft straflos davonkommen.“
Die Liste der „Feindinnen und Feinde der Pressefreiheit“ erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie prangert jedoch besonders gravierende Beispiele für die Einschränkung journalistischer Arbeit an. Reporter ohne Grenzen veröffentlicht die Liste in unregelmäßigen Abständen seit 2001, zuletzt am 2. November 2016 zum UN-Welttag gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalistinnen und Journalisten. RSF wird zu einem späteren Zeitpunkt eine Liste mit nichtstaatlichen Gruppen wie Extremisten- und Verbrecherorganisationen veröffentlichen.
Asien-Pazifik
Die
meisten Neuzugänge in diesem Jahr verzeichnet die Region Asien-Pazifik,
in der allein 13 der insgesamt 37 „Feindinnen und Feinde der
Pressefreiheit“ regieren. In Hongkong
unterstützt Regierungschefin Carrie Lam mittlerweile offen die
repressive Politik des chinesischen Präsidenten Xi Jinping gegen die
Medien. Das führte zum Aus der kritischen Tageszeitung Apple Daily und zur Inhaftierung des Verlegers Jimmy Lai,
der unter dem sogenannten, von Peking aufgezwungenen Sicherheitsgesetz
angeklagt wurde. Er muss mit einer lebenslangen Haftstrafe rechnen.
Auf den Philippinen haben die Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten und auf unabhängige Medien seit dem Amtsantritt von Präsident Rodrigo Duterte
2016 stark zugenommen. Mindestens vier Medienschaffende wurden dort im
vergangenen Jahr wegen ihrer Arbeit getötet. Der wichtigste nationale
Sender ABS-CBN musste schließen, weil seine Lizenz nicht erneuert worden war. Das Duterte-Regime hat außerdem die preisgekrönte Journalistin Maria Ressa und die von ihr gegründete Nachrichtenseite Rappler im Visier. Gegen Ressa laufen mehrere Verfahren und in weniger als zwei Jahren wurden zehn Haftbefehle gegen sie ausgestellt.
In Myanmar hat Anfang Februar das Militär unter Juntachef Min Aung Hlaing
wieder die Macht übernommen. Mit dem Putsch wurde die Pressefreiheit im
Land innerhalb weniger Tage um zehn Jahre zurückgeworfen. Dutzende
Journalistinnen und Journalisten wurden festgenommen und unabhängigen Medien die Lizenz entzogen.
RSF ist äußerst besorgt, dass die neue Militärdiktatur zu ähnlich
drakonischen Mitteln zurückgreifen könnte, wie es die Junta in den
Jahren 1967 bis 2011 tat, als Journalistinnen und Journalisten gefoltert und in Hundekäfigen eingesperrt wurden.
Zu den weiteren Neuzugängen gehören der seit 1985 an der Macht stehende kambodschanische Ministerpräsident Hun Sen, der pakistanische Premierminister Imran Khan, Indiens Premier Narendra Modi, Sri Lankas Präsident Gotabaya Rajapaksa und Bangladeschs Premierministerin Sheikh Hasina.
Europäische Union
Auch innerhalb der Europäischen Union regiert ein Feind der Pressefreiheit. Seit Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei 2010 an die Regierung gekommen sind, haben sie Ungarns
Medienlandschaft Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle gebracht. Die
öffentlich-rechtlichen Rundfunksender wurden in der staatlichen
Medienholding MTVA zentralisiert, zu der auch Ungarns einzige Nachrichtenagentur MTI
gehört. Die regionale Presse ist seit dem Sommer 2017 vollständig im
Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer. Im Herbst 2018 wurden fast 500
regierungsnahe Medienunternehmen in einer Holding zusammengefasst, um
ihre Berichterstattung zentral zu koordinieren.
Wichtige unabhängige Medien wurden ausgeschaltet. Zuletzt traf es das landesweit größte Nachrichtenportal Index.hu und den kritischen Radiosender Klubrádió. Auch die überregionalen Zeitungen Népszabadság und Magyar Nemzet
wurden eingestellt. Regierungskritische und investigative Berichte
finden über kleinere Online-Medien nur noch geringe Verbreitung.
Wiederholt haben regierungsnahe Medien „schwarze Listen“ unliebsamer
Journalistinnen und Journalisten veröffentlicht.
Lateinamerika
Erstmals auf der Liste der „Feinde der Pressefreiheit“ steht der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro.
Schon seit seinem Wahlkampf im Jahr 2018 setzt Bolsonaro vor allem auf
die sozialen Netzwerke und umgeht die traditionellen Medien. Kritische
Journalistinnen und Journalisten beleidigt, verunglimpft, stigmatisiert
und demütigt er und bedient sich dabei bisweilen äußerst geschmackloser
und vulgärer Sprache, besonders gegenüber weiblichen Medienschaffenden.
Dass manche Medien „schlimmer als Müll“ seien, „weil Müll recyclebar“
sei, ist dabei noch eins der harmloseren Beispiele. Unterstützt wird
Bolsonaro dabei von seinem engen Umfeld und vor allem seinen Söhnen, die
ebenfalls Politiker sind und ihm in punkto aggressiver Rhetorik in
nichts nachstehen. In den sozialen Medien fährt eine ganze Armee von
Anhängerinnen, Anhängern und Bots Hetzkampagnen gegen die Presse.
Seit Nicaraguas Staatspräsident Daniel Ortega
2016 zum dritten Mal in Folge ins Amt gewählt wurde, wird die
unabhängige Presse im Land mit Drohungen, Verfolgungen,
Verleumdungskampagnen, willkürlichen Festnahmen, dem Entzug von
Werbegeldern und dem „Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten“
gegängelt. Seit 2018 wurde zudem die Lieferung von Tinte, Papier und
Kautschuk so stark eingeschränkt, dass die meisten gedruckten Zeitungen
des Landes ihr Erscheinen einstellen mussten. Vor der Präsidentenwahl im
November 2021 hat das Ortega-Regime sein Zensurarsenal noch einmal
verstärkt, indem gegen oppositionelle Politikerinnen, Politiker und
Medien Gerichtsverfahren eingeleitet wurden.
Erstmals auf der Liste vertreten ist Miguel Díaz-Canel, seit Oktober 2019 Staatspräsident von Kuba.
Unter ihm wird die Null-Toleranz-Politik der Castros gegenüber
unabhängigen Medien unvermindert fortgesetzt, auch wenn durch die
Ausbreitung des Internets vereinzelt Freiräume entstanden sind.
Wie schon 2016 ist auch in diesem Jahr Venezuelas Staatspräsident Nicolás Maduro auf der Liste vertreten.
Naher Osten und Nordafrika
Zu den Neuzugängen zählt der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman.
Aller Reformrhetorik zum Trotz hat der starke Mann im Staat seit seiner
Ernennung 2017 die Repression vor Ort noch verstärkt. Mehr als 30
Journalistinnen und Journalisten, Bloggerinnen und Blogger sind derzeit
in Saudi-Arabien im Gefängnis, weil sie kritisch über die Politik des Königreichs oder über die Zustände im Land berichtet haben.
Mehrere sollen im Gefängnis gefoltert worden sein oder sind schwer
krank und werden unzureichend medizinisch versorgt. Die Ermordung des
Exil-Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in
Istanbul 2018 hat gezeigt, dass Kritikerinnen und Kritiker selbst im
Ausland nicht sicher sind. Vor dem Hintergrund hat RSF beim
Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen Mohammed bin Salman wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstattet.
Unverändert katastrophal ist die Situation unabhängiger Journalistinnen und Journalisten auch unter Syriens kürzlich im Amt betätigtem Präsidenten Baschar al-Assad, Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi, Bahrains König Hamad bin Isa Al Chalifa und Irans religiösem Führer Ali Chamenei. Im Iran wurde 2020 der Journalist Ruhollah Sam hingerichtet – die erste staatliche Exekution eines Medienschaffenden seit 30 Jahren.
Osteuropa und Zentralasien
In Osteuropa zählt RSF den russischen Präsidenten Wladimir Putin sowie Alexander Lukaschenko in Belarus bereits seit mehr als 20 Jahren zu rigorosen „Feinden der Pressefreiheit“. In Russland
brachte Putin nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 das Fernsehen sowie
die wichtigsten unabhängigen Verlage unter die Kontrolle des Kreml. Seit
den Massenprotesten im Winter 2011/12 verschärfte die Staatsmacht unter
seiner Führung die Zensur auch im Internet massiv. Kritische
Medienschaffende riskieren ihr Leben: Seit Putins Amtsantritt wurden
mindestens 37 Reporterinnen und Reporter wegen ihrer Arbeit ermordet,
kaum eines dieser Verbrechen wurde aufgeklärt.
Nach den Protesten
zur Unterstützung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny und wenige
Monate vor der Duma-Wahl im September hat sich die Situation für
unabhängige Medienschaffende in diesem Jahr noch einmal deutlich
verschärft. Sie laufen Gefahr, willkürlich zu ausländischen Agentinnen
und Agenten erklärt zu werden. Mehrere kremlkritische Nachrichtenportale
mussten deshalb in den vergangenen Wochen ihre Arbeit einstellen oder
kämpfen ums finanzielle Überleben. Noch düsterer ist die Lage in der
nordkaukasischen Teilrepublik Tschetschenien, wo Präsident Ramsan Kadyrow jeden Widerspruch mit brutaler Gewalt unterdrückt und seit 2016 zu den größten „Feinden der Pressefreiheit“ weltweit zählt.
In Belarus unterdrückt Alexander Lukaschenko,
der das Land seit 1994 diktatorisch regiert, die freie Verbreitung von
Informationen auf brutale Weise. Mehr als 500 Journalistinnen und
Journalisten wurden seit Beginn der Proteste gegen seine Herrschaft im
vergangenen Sommer festgenommen und im Gefängnis zum Teil schwer
misshandelt. 25 von ihnen sind nach wie vor in Haft. Ausländische
Medienschaffende haben kaum noch die Möglichkeit, legal in Belarus zu
arbeiten. Der wichtigsten unabhängigen Nachrichtenseite Tut.by wurde die Lizenz entzogen, Chefredakteurin Maryna Solatawa
sitzt im Gefängnis, der Zugang zur Seite ist inzwischen gesperrt. Am
23. Mai sorgte Lukaschenko für internationale Empörung, als er ein
Passagierflugzeug nach Minsk umleiten und zwangslanden ließ, um den im
Exil lebenden regimekritischen Blogger Roman Protassewitsch (Raman Pratassewitsch) verhaften zu lassen.
Neu auf der Liste der Pressefreiheit steht seit diesem Jahr Tadschikistans Präsident Emomali Rachmon.
Die wichtigsten unabhängigen Medien mussten unter dem Druck der
Staatsmacht schließen, unabhängige Webseiten und soziale Netzwerke
werden blockiert. Die meisten Journalistinnen und Journalisten üben sich
in strenger Selbstzensur. Wer kritisch über Korruption in der
herrschenden Elite berichtet, riskiert jahrelange Gefängnisstrafen.
Ähnlich schwierig ist die Lage in Turkmenistan und im südkaukasischen Aserbaidschan. Die Präsidenten Gurbanguli Berdimuchamedow und Ilcham Alijew werden von RSF ebenfalls als „Feinde der Pressefreiheit“ eingestuft.
Afrika südlich der Sahara
Einer der größten „Feinde der Pressefreiheit“ in Afrika ist Eritreas Präsident Isaias Afewerki,
der seit 1993 regiert und seit Beginn der Auflistung im Jahr 2001
durchgehend vertreten ist. Das Regime hat jede freie
Medienberichterstattung unterbunden. Im Zuge einer Verhaftungswelle vor
nunmehr 20 Jahren kam auch der schwedisch-eritreische Journalist Dawit
Isaak ins Gefängnis. RSF fordert unvermindert, dass er freikommt. Viele
seiner Mitstreiter sind inzwischen gestorben.
Ebenso lange gelten Paul Kagame, der 1994 erst Vizepräsident und im Jahr 2000 Präsident Ruandas wurde, und der Staatschef von Äquatorialguinea, Teodoro Obiang Nguema Mbasogo,
als erwiesene „Feinde der Pressefreiheit“. Kagame kann durch eine
Verfassungsänderung für eine dritte Amtszeit kandidieren und theoretisch
bis 2034 im Amt bleiben. Neu hinzu gekommen sind die Präsidenten Paul Biya in Kamerun, Ismael Omar Guelleh in Dschibuti und Yoweri Museveni in Uganda.
Reporter ohne Grenzen e.V.