Nach einem bewaffneten Angriff auf ein zentrales Protestlager in Bagdad sind am Wochenende erneut tausende Menschen im Irak auf die Straße gegangen. Die Demonstranten erklärten, sie ließen sich von der tödlichen Gewalt nicht abschrecken. Die Proteste gingen weiter, solange sich die herrschende Klasse weigere, die Macht abzugeben.
Wie bereits am Samstag beteiligten sich auch am Sonntag wieder tausende Menschen in Bagdad und dem schiitischen Süden des Landes an den Protesten. Auf dem zentralen Tahrir-Platz der Hauptstadt fand sich eine riesige Menge ein. Die Menschen gedachten der 20 Demonstranten und vier Polizisten, die am Freitagabend bei einem Angriff auf ein nahegelegenes Protestlager erschossen worden waren.
Unbekannte Scharfschützen auf Pick-ups hatten nach Einbruch der Dunkelheit ein Gebäude in der Nähe der Al-Sinek-Brücke attackiert, in dem regierungskritische Demonstranten seit Wochen ausharren. Die Sicherheitskräfte griffen nicht ein. Der Angriff habe sein mutmaßliches Ziel verfehlt, die Protestbewegung einzuschüchtern, sagte ein Student am Sonntag.
Kundgebungen, Straßenblockaden und Streiks aus Protest gegen die blutige Gewalt wurden aus zahlreichen südirakischen Städten gemeldet, darunter auch aus Nadschaf. Dort war am Samstag das Haus des einflussreichen schiitischen Predigers und Politikers Moktada al-Sadr mit einer Drohne angegriffen worden. Sie traf nur die Außenmauer seines Hauses, doch löste der Angriff Sorge vor einer weiteren Eskalation in dem Konflikt aus.
Al-Sadr, der die Proteste seit einiger Zeit unterstützt, hatte seine Anhänger in der Nacht zum Samstag angewiesen, auf die Straße zu gehen und "Demonstranten zu schützen". Zahlreiche Menschen folgten seinem Ruf.
Präsident Barham Saleh verurteilte den tödlichen Angriff auf die Demonstranten. Er rief die Behörden auf, die "Täter zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen". Die Regierung in Bagdad müsse die Demonstranten schützen und "sofortige Maßnahmen" gegen die unbekannten Angreifer ergreifen, erklärte der britische Botschafter Stephen Hickey.
Die UNO bezeichnete den Überfall auf das Protestcamp als "Gräueltat". "Bandengewalt, die aus externen Loyalitäten entstehen, (...) setzen den Irak dem Risiko aus, auf eine gefährliche Bahn zu gelangen", warnte die UN-Sondergesandte im Irak, Jeanine Hennis-Plasschaert.
Seit Beginn der Demonstrationen im Irak Anfang Oktober sind über 450 Menschen getötet und rund 20.000 weitere verletzt worden; in der überwiegenden Zahl handelt es sich bei den Opfern um Demonstranten. Wegen der blutigen Niederschlagung der Proteste verhängten die USA am Freitag Sanktionen gegen die drei Anführer der von Teheran unterstützten Hasched-al-Schaabi-Milizen - sie stehen im Verdacht, hinter den Angriffen unbekannter Scharfschützen zu stehen.
Im Zuge der wochenlangen Proteste war der irakische Regierungschef Adel Abdel Mahdi vor einer Woche zurückgetreten. Seitdem laufen in Bagdad Gespräche über die Bildung einer neuen Regierung. Daran ist auch der iranische General Ghassem Soleimani, der Kommandeur der Elitetruppe für Auslandseinsätze der Revolutionsgarden, beteiligt. Die USA kritisierten Soleimanis Beteiligung an den Verhandlungen scharf.
Die Proteste richten sich nicht mehr nur gegen die schlechte Versorgungslage im Land und die Regierung. Inzwischen treffen sie die gesamte Elite des Landes, der die Demonstranten vorwerfen, korrupt und unfähig und nur am eigenen Vorteil interessiert zu sein. Viele Demonstranten protestieren zudem gegen den zunehmenden Einfluss des benachbarten Iran auf die Politik ihres Landes.
ans/lan
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