Aus seiner Botschaft macht Jürgen Todenhöfer an diesem Abend keinen Hehl. Jürgen Todenhöfer ist ein Mann klarer Worte. Er nennt Ross und Reiter: Der Westen trägt an viel Leid in der Welt Schuld. Krisenherde würde durch das Eingreifen des Westens nicht befriedet, sondern ihre Militäreinsätze würden wie Brandbeschleuniger wirken. Mit solchen Aussagen rüttelt er sein Publikum auf. Dafür bekommen er und sein Sohn Frédéric viel Applaus und Zustimmung. Jürgen und Frédéric Todenhöfer sind bekennende Pazifisten.
Der Publizist und Politiker, Journalist und Buchautor las am vergangenen Sonntag in der „Cloud“ im Germania Campus gemeinsam mit seinem Sohn aus seinem neuen Buch „Die große Heuchelei“. Mehr als 300, darunter viele junge Menschen waren gekommen, um den aufwühlenden Berichten aus den Krisengebieten der Welt, den klugen Analysen und politischen Schlussfolgerungen zu lauschen.
Die Mehrheit der Zuhörer hatte erkennbar einen Migrationshintergrund. Viele stammten offenbar selber aus Afghanistan oder aus Syrien, dem Iran, Irak oder haben dort betroffene Angehörige und Freunde. Ihre Betroffenheit auf die Schilderungen war unmittelbar zu spüren. Bei den emotionalen Berichten aus den Krisengebieten im Jemen, dem Irak und Syrien hätte man eine Nadel fallen hören. Es herrschte über weite Strecken der Lesung eine atemlose Stille, in der sich Schmerz, Betroffenheit und Trauer breit machten.
Der Verkauf des Bestsellers lief bereits vor der Veranstaltung wie geschnitten Brot. Einige der Zuhörer nahmen den Ratschlag der Autoren ernst und kauften nach der Lesung gleich mehrere Exemplare des Buches und ließen es von Jürgen Todenhöfer signieren und mit einer persönlichen Widmung versehen. „Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten“ ist in diesem Jahr im Propyläen-Verlag erschienen und gehört zu den Bestsellern im Sachbuch-Bereich. „Wahrscheinlich ist es die erfolgreichste Publikation im Bereich der politischen Bücher in diesem Jahr“, vermutet Jürgen Todenhöfer.
Immer wieder kommt Todenhöfer auf die Interessen und Heuchelei des Westens zu sprechen. Er solle sich raushalten aus allen kriegerischen Einsätzen auf der ganzen Welt. Und wer wie die Bundesrepublik Waffen in Krisengebiete verkaufe mache sich in seinen Augen ganz klar schuldig. Der ehemalige Jurist schlug sogar vor, dass man Waffenlieferungen aus deutschen Waffenschmieden unter Strafe stelle solle. „Denn das ist Beihilfe zum Mord! Waffen haben nur einen Zweck, sie sollen Menschen töten.“
Noch niemals habe „Krieg die Menschen glücklich gemacht“. Zwar werde immer wieder behauptet, dass es bei der Auseinandersetzungen im Nahen Osten beispielsweise um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit also um westliche Werte gehe, aber in Wirklichkeit beruhe die Außenpolitik des Westens auf einer großen Lüge: Seine weltweiten Militärinterventionen dienten bereits seit Jahrhunderten weder den Menschenrechten noch anderen edlen Werten und Zielen, sondern stets ökonomischen oder geostrategischen Interessen. Jürgen Todenhöfer belegt diese These in seinem neuen Buch mit Reportagen aus den Krisengebieten dieser Welt, aber auch mit historischen Analysen.
Seine Lesung in Münster beginnt er mit dem Bericht einer Reise in den Norden des Jemen, wo er mit der jemenitischen Meliz und den Huthi-Rebellen sprechen wollte. Todenhöfer schildert eine höchst gefährliche Reise. Bis zu 100 Kontrollposten musste er unterwegs passieren. Mehr als einmal stand die ganze Mission auf Messers Schneide. So arbeitet der Journalist und Publizist. Er will mit den Machthabern reden, will ihre Motive verstehen und auf sie einwirken. „Manchmal muss man dabei mit dem Teufel reden“, bekennt der Journalist.
Gemeinsam mit seinem Sohn und Co-Autor Frédéric Todenhöfer hat er vor Ort in den gefährlichsten Krisengebieten der Welt recherchiert, oft unter extremen Gefahren. Aber nur so könne man verstehen, was in diesen Regionen tatsächlich vor sich gehe. Den allermeisten Politikern attestiert er, dass sie von der Wirklichkeit „keine Ahnung haben“. Dass Kanzlerkandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer völlig undifferenziert nach Militäreinsätzen rufe, hält Jürgen Todenhöfer für geradezu absurd. Er schlägt vor, dass sie besser im Saarland bleiben sollte, wo sie „vermutlich viel Gutes bewirkt habe“.
Die Todenhöfers waren in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Libyen, in Gaza, im Jemen, bei den Rohingya in Bangladesh und Myanmar, in Saudi-Arabien, im Iran und auch in Nordkorea. Stets versuchten beide, mit allen Konfliktparteien zu sprechen: mit führenden Taliban und mit dem afghanischen Präsidenten, mit dem IS, dem sogenannten „Islamischen Staat“, aber auch mit Assad. Seine stundenlangen Interviews mit dem IS haben ihm viel Kritik eingebracht, ja ihm wird vorgehalten, durch er sich durch seine Beachtung des IS selber schuldig gemacht habe.
Niemand hatte in den letzten Jahrzehnten intensiveren Zugang zu den Krisen- und Kriegsschauplätzen und zu den unterschiedlichsten Akteuren des Mittleren Ostens als Jürgen und Frédéric Todenhöfer. Die Anzahl von Jürgen Todenhöfers Kritikern stieg und stieg, die Zahl seiner Anhänger aber auch, derjenigen, die seine Ideen und Strategien befürworten und sein Engagement für den Frieden für unzweifelhaft halten.
Jürgen Todenhöfer belegt seine These über die Heuchelei des Westens mit zahllosen Beispielen: So zeigt er anhand der Afghanistan-Debatte im Dezember 2001, wie die deutschen Parteien argumentierten, beim Einsatz der Bundeswehr gehe es darum, afghanischen Mädchen den Schulzugang zu ermöglichen. Man sei lediglich aus Bündnisgründen mit marschiert. Doch auch heute besuchten nur 40 Prozent der afghanischen Mädchen eine Schule. Aus dieser Sicht also habe die Mission keinerlei Erfolg gezeigt.
Er schildert, dass zehn Monate nach der „Befreiung“ von Mosul durch die internationale Allianz gegen den IS, der auch Deutschland angehörte, noch immer mumifizierte Kinderleichen auf den Trümmern der zerbombten Häuser lagen. Die „Befreier“ hatten sich nicht einmal um die Bestattung der Toten gekümmert. Sein Sohn liest in seinem Kapitel über Ereignisse um die Befreiung Mosuls, die tausende von zivilen Opfern gekostet hat. Dabei wird bei einem Raketenangriff eine ganze Familie ausgelöscht. Statt den Zivilisten, den Verletzten zu helfen und die Toten zu bergen, wird über Tage der Zielort gesichert, so dass niemand heran kommt, nur um das Geschoss und mögliche elektronische Bauteile zu sichern. Eine geradezu groteske und perverse Situation.
Todenhöfer berichtet von den Bombardements im Norden des Jemen, bei denen ohne Hemmungen auch deutsche Waffen eingesetzt würden. Und er macht deutlich, wie das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz zurecht biegt, um Auslandseinsätze der Bundeswehr zu ermöglichen. Viele Politiker hätten in den vergangenen Jahren einen nicht nachzuvollziehenden Gesinnungswandel durchgemacht.
Der intensive und schmerzhafte Abend geht mit
einer kleinen Fragerunde zu Ende, bei der Jürgen Todenhöfer auch kritische
Frage gestellt werden, etwa die, warum er als Pazifist immer noch Mitglied der
CDU sei und nicht längst zu den Linken übergetreten sei. Todenhöfer macht
deutlich, dass er immer weiter sprechen wolle, um auch in der CDU eine Bewusstseinsveränderung
herbeizuführen. „So leicht möchte ich es der CDu nicht machen, dass sie mich
als Kritiker los wird“. Kein Frage: Jürgen Todenhöfer ist ein aufrichtiger
Politiker, der unermüdlich im Dienste des Friedens unterwegs ist. Großer
anerkennender Schlussapplaus.
Fotos: Jörg Bockow