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Merkel jetzt Ehrendoktor

Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Auszeichnung mit der Ehrendoktorwürde der Johns Hopkins University am 15. Juli 2021

Sehr geehrter Herr Präsident Ron Daniels,

sehr geehrter Chair of the Board of Trustees Lou Forster,

sehr geehrter Provost Sunil Kumar,

sehr geehrter Interim Dean Kent Calder,

sehr geehrter Herr Präsident Jeff Rathke,

sehr geehrter Herr Professor Eliot Cohen,

sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung. Es ist mir eine große Freude, bei Ihnen zu sein. Ich fühle mich sehr geehrt durch den freundlichen Empfang und vor allem durch die hohe Auszeichnung. Diese Ehrendoktorwürde bedeutet mir sehr viel, denn sie ist ein Ausdruck der besonderen Verbundenheit unserer beiden Länder – und von heute an natürlich auch der Johns Hopkins Universität und mir persönlich.

Es ist ein besonderer Anlass; und es ist eine besondere Zeit. So wie Sie im letzten Jahr eine Vielzahl an Vorlesungen und Veranstaltungen nur virtuell abhalten konnten, so habe auch ich die Mehrzahl meiner Termine im virtuellen Raum durchgeführt. Umso mehr freue ich mich, dass wir uns heute von Angesicht zu Angesicht begegnen können.

Wenn ich heute an meinen letzten Besuch in den Vereinigten Staaten im Mai 2019 zurückdenke, dann kann man kaum fassen, was seither geschehen ist. Vor zwei Jahren dachten die allerwenigsten Menschen beim Wort „Corona“ an ein Virus. Seit anderthalb Jahren aber erleben wir, wie dieses Virus die Welt in Atem hält und wie es unsere Welt verändert hat. Wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann wie wenig gewiss manche vermeintlichen Gewissheiten sind. Sie lehrt uns, wie sehr wir gefordert sind, uns mit unserem Denken und Handeln immer wieder auf Neues und völlig Unerwartetes einzustellen.

Wir lernen in der Pandemie – auch jetzt noch, da Impfstoffe beginnen, eine erste Wirkung zu zeigen. Wir müssen wachsam bleiben. Denn das Virus ist noch nicht aus der Welt. Im Gegenteil, noch immer kämpfen wir weltweit mit viel zu hohen Infektionszahlen. Noch immer sterben täglich Tausende Menschen an COVID-19. Mehr als vier Millionen Todesopfer hat das Virus bereits gefordert. Das sind die Zahlen. Doch hinter ihnen stehen Schicksale: Menschen, die um einen lieben Menschen trauern; Familien, für die es nie wieder so sein wird, wie es vor der Pandemie war.

Ich verstehe, wie sehr alle nur noch ein Ende des Schreckens herbeisehnen. Die Pandemie und das, was sie uns allen jeden Tag abverlangt, sind zermürbend. Wir wollen unsere Normalität zurück. Doch wir dürfen gerade jetzt nicht nachlassen, die täglichen Zahlen, Daten, Fakten zur Entwicklung der Pandemie genauso ernst zu nehmen wie am ersten Tag. Wir dürfen gerade jetzt nicht nachlassen, diese Zahlen, Daten und Fakten zu analysieren, auszuwerten und daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen.

Zahlen, Daten, Fakten – wie sie die Johns-Hopkins-Universität liefert. Kaum ein Name ist mit der Informationsermittlung und der Informationsverarbeitung der Zahlen, Daten und Fakten der Coronavirus-Pandemie so sehr verbunden wie der der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Seit Januar 2020 geben die Daten des Coronavirus Research Center der Öffentlichkeit, Forschern und nicht zuletzt der Politik ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie die Entwicklung der Pandemie gleichsam in Echtzeit verfolgen können. Das ist von enormer Bedeutung. Denn das trägt dazu bei, die Pandemieentwicklung nachvollziehen zu können und auf dieser Grundlage nicht zuletzt auch die internationale Zusammenarbeit zu stärken, ohne die eine globale Herausforderung wie diese Pandemie nicht bewältigt werden könnte. Für diese so überaus herausragende Arbeit möchte ich Ihnen ganz, ganz herzlich danken. Ich selber habe auch viele von diesen Zahlen genutzt und davon profitiert.

Es kann allerdings kaum verwundern, dass es gerade die Johns Hopkins Universität ist, die der Welt mit dieser Dienstleistung in der Pandemie hilft. Denn diese Universität hat sich gemäß ihrem Motto „Veritas vos liberabit“ – Wahrheit wird euch befreien – dem steten Streben nach Erkenntnis und Wahrheit verpflichtet. In diesem Sinne gab Ihr erster Präsident Daniel Coit Gilman im Gründungsjahr 1876 das damals wie heute so aktuelle Ziel aus, die hier Forschenden zu unabhängigem Denken anzuhalten und die Ergebnisse zum Nutzen der Welt zu teilen.

Zu unabhängigem Denken anzuhalten, das war – gestatten Sie mir diese persönliche Bemerkung – wahrlich nicht das Umfeld, in dem ich in der DDR als junge Physikerin vor dem Fall der Berliner Mauer arbeiten musste. Immerhin: Die Physik war und ist ein Fach, in dem Naturgesetze gelten und keine Staatsideologien. Daran konnte auch die DDR nicht wirklich etwas ändern.

Gleichwohl: Es dauerte über vierzig Jahre, bis der Kalte Krieg beendet war und die deutsche Teilung überwunden wurde, bis die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Demokratie, die immer da war, endlich stärker als Mauer und Stacheldraht sein konnte. Die friedliche Revolution der Bürgerinnen und Bürger der DDR brachte die Berliner Mauer am 9. November 1989 zu Fall. Das war der Anfang vom Ende der DDR. Weniger als ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, wurde Deutschland in Frieden und Freiheit wiedervereinigt. Ich werde nie vergessen, welch überragenden Beitrag gerade auch die Vereinigten Staaten von Amerika zu dieser Zeitenwende geleistet haben. Dafür werde ich auch ganz persönlich immer dankbar sein.

Deutschland und Amerika sind auf das Engste miteinander verbunden. Diese Verbundenheit zeigt sich auch im Hochschulbereich. Kern des deutschen Hochschulsystems ist das Verständnis der Einheit von Lehre und Forschung. In Amerika wird dieses Verständnis besonders intensiv an der Johns Hopkins Universität gelebt, die seit Jahrzehnten führend bei Investitionen in Forschung und Entwicklung ist. Das kommt nicht von ungefähr. Darauf wies etwa auch Ihr ehemaliger Präsident Steven Muller hin, als er 1985 das damalige Westberlin, den freien Teil der Stadt, besuchte. Wenn der preußische Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt als Vater der modernen deutschen Universität angesehen werde, dann, so meinte Muller damals, müsste man ihn auch als Großvater der Universität in Amerika verstehen. Nicht weil seine Schriften unmittelbaren Einfluss in Amerika gehabt hätten, sondern weil seine Ideen mittelbar über die rund zehntausend amerikanischen Akademiker, die Mitte des 19. Jahrhunderts an deutschen Universitäten studiert hatten, Eingang in die amerikanische Universitätslandschaft gefunden hätten.

Weil wir mit der engen Verbindung von Lehre und Forschung zentrale geistige Wurzeln teilen, ist es nur folgerichtig, dass das einzige Institut in den Vereinigten Staaten, das ausschließlich auf Deutschlandstudien spezialisiert ist, zu Ihrer Universität gehört: das American Institute for Contemporary German Studies. Dieses Institut hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf beiden Seiten des Atlantiks ein gemeinsames Verständnis für mögliche Lösungen der großen Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln – für Lösungen, die unseren gemeinsamen Werten entsprechen und unseren gemeinsamen Interessen dienen.

Das erfordert einen umfassenden Dialog, natürlich auch über akademische Kreise hinaus und nicht zuletzt auch im politischen Raum – sowohl bilateral als auch zum Beispiel im Rahmen des EU-USA-Dialogs, wie er anlässlich der Europareise von Präsident Biden im Juni stattgefunden hat. Es ist von großer Bedeutung, dass der jüngste EU-USA-Gipfel neben konkreten Vereinbarungen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen mit neuen Dialogformaten wie dem Handels- und Technologierat auch im Klimaschutz, im Handel und in der Außenpolitik gute Voraussetzungen geschaffen hat, die transatlantischen Beziehungen weiter zu vertiefen.

Ein Signal der Geschlossenheit und des Aufbruchs ging auch vom jüngsten NATO-Gipfel in Brüssel aus: Geschlossenheit durch das klare Bekenntnis zur Beistandsverpflichtung aus dem NATO-Vertrag und Aufbruch durch die Reformagenda „NATO 2030“, die unserer Allianz den Weg in die Zukunft weist.

Dialog und partnerschaftliche Zusammenarbeit erleichtern uns auch im multilateralen Engagement für unsere Ideen gemeinsam zu werben und neue wie alte Partner einzubinden. Das gilt ganz besonders für unsere Arbeit in den Vereinten Nationen. Sie stehen für eine regelbasierte internationale Ordnung. Ihre Charta enthält Werte, die allgemeingültig, jedoch immer schwerer durchsetzbar sind. Denn mit ständig wiederkehrenden Blockaden treten wir viel zu oft auf der Stelle. Deshalb heißt die Aufgabe: Wir müssen die Vereinten Nationen handlungsfähiger machen. Denn unverändert bieten sie die beste Chance, um globale Antworten auf globale Fragen zu finden.

Das Gebot in unserer vielfach vernetzten, aber auch so verletzlichen Welt ist es, unsere Kräfte zu bündeln. Wie wichtig das ist, das zeigt besonders deutlich die Coronavirus-Pandemie. Es sollte allen klar sein, dass wir diese Pandemie nur gemeinsam überwinden. Der Schlüssel dazu ist der Zugang zu Impfstoffen – auch und gerade für die ärmeren Länder dieser Welt. Genau deshalb unterstützen die USA und Deutschland die globale Initiative ACT-Accelerator. In der Pandemiebekämpfung kommt den führenden Wirtschaftsnationen der G20 und vor allem den Staaten der G7 eine besondere Verantwortung zu. Daher sind die Verpflichtungen des G7-Gipfels in Cornwall von großer Bedeutung. Ziel ist es, über zwei Milliarden Impfdosen bis 2022 bereitzustellen. Bemerkenswert sind darüber hinaus unter anderem auch unsere Vereinbarungen zur Bekämpfung des Klimawandels, zur internationalen Besteuerung und zu einer gemeinsamen Initiative für nachhaltige globale Infrastrukturen.

Meine Damen und Herren, als Amerikaner, Deutsche und Europäer sind wir Verbündete in der NATO. Wir sind Partner im globalen Handel. Wir teilen gemeinsame Werte und Interessen. Keine zwei Regionen auf der Welt sind durch eine solche Tiefe und Breite gemeinsamer Interessen und Werte verbunden wie Europa und Nordamerika. Und weil das so ist, verstehe ich die große Ehre, die Sie mir heute haben zuteilwerden lassen, nicht zuletzt auch als besonderen Ausdruck der Verbundenheit unserer beiden Länder. Dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar.

Danke schön.


Foto: Bundesegierung/Bergmann