Der britische Premierminister Boris Johnson und sein Herausforderer Jeremy Corbyn haben wenige Stunden vor Beginn der Parlamentswahl noch um Stimmen geworben. Johnson sagte am Mittwoch vor dem Hintergrund eines womöglich schrumpfenden Vorsprungs für seine konservativen Tories, das Rennen "könnte nicht enger sein". Seine Partei büßte laut einer letzten, am Dienstagabend veröffentlichten Umfrage, 20 Mandate ein, während Corbyns Labour-Partei sich stabilisieren konnte.
"Es könnte nicht kritischer sein", sagte der 55-jährige Premier, der am Mittwochmorgen in Leeds Milchflaschen aus Kisten mit der Aufschrift "Get Brexit Done" (Vollzieht den Brexit) auslieferte. "Wir kämpfen um jede Stimme."
Johnson hatte vorgezogene Neuwahlen ausgerufen, um sich im Brexit-Streit eine komfortable Mehrheit im Parlament zu verschaffen. Seinen Wahlkampf konzentrierte er vor allem auf sein Versprechen, den EU-Austritt zum 31. Januar kommenden Jahres zu vollziehen.
Sollte Johnson die Mehrheit bekommen, will er noch vor Weihnachten seinen Austritts-Deal mit der EU durchs Parlament bringen und im neuen Jahr mit den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen beginnen. Das alte Parlament hatte ihm mehrfach die Zustimmung zu seinen Brexit-Plänen verweigert.
In der am Dienstagabend veröffentlichten Umfrage des Instituts YouGov sagten 43 Prozent der Teilnehmer, sie wollten für die Tories stimmen, 34 waren für die oppositionelle Labour-Partei. Dies würde 339 Mandate für die Konservativen bedeuten, 20 weniger als bei der vorherigen YouGov-Umfrage von Ende November.
Dennoch würde ein solches Ergebnis bei der Zahl der Unterhaus-Sitze das beste Abschneiden der Konservativen seit 1987 bedeuten, betonte YouGov. Johnson hätte damit eine ausreichende Mehrheit, um den EU-Austritt umzusetzen.
Zugleich erläuterte das Meinungsforschungsinstitut, angesichts der Fehlermarge könne die Zahl der tatsächlich von den Tories gewonnenen Sitze bei 311 bis 367 liegen - ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse sei also "absolut nicht ausgeschlossen". Taktische Wahlentscheidungen und der jüngste Trend zugunsten von Labour könnten alles verändern.
Auch wenn Labour voraussichtlich nicht auf eine eigene Mehrheit kommen dürfte, so könnte die Partei doch mit den pro-europäischen Liberaldemokraten und der Scottish National Party (SNP) eine Koalition bilden.
Laut der Umfrage kämen die Konservativen auf 339 Abgeordnete im Parlament, Labour auf 231, die SNP auf 41 und die Liberaldemokraten auf 15 Abgeordnete. Insgesamt sind 650 Mandate im britischen Unterhaus zu vergeben. Es ist die dritte Parlamentswahl in vier Jahren.
Corbyn war am Mittwoch unter anderem in Schottland auf Wahlkampftour. Er rief die noch Unentschlossenen auf, am Donnerstag für "Hoffnung" zu stimmen. Der 70-Jährige will den EU-Austritt noch einmal verschieben: Erst soll ein neuer Deal mit Brüssel verhandelt werden, der Großbritannien deutlich enger an die EU bindet, als es Johnsons Vereinbarung tun würde - dann soll die Bevölkerung in einem Referendum zwischen diesem Deal und einem Verbleib in der EU entscheiden.
Corbyn hat ein Wahlprogramm mit Milliardeninvestitionen und Verstaatlichung von Infrastruktur vorgelegt. Zugleich warnt er davor, dass Johnsons Brexit-Deal de facto eine Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland bedeute und der amtierende Premier bei einem Wahlsieg den steuerfinanzierten Gesundheitsdienst NHS privatisieren wolle.
lan/ju