Münster - Seit gut eineinhalb Jahren schaltet sich Deutschland von einer Videokonferenz in die nächste. Ob Online-Seminar oder geschäftliches Meeting – die Treffen verlaufen häufig ähnlich: Erst wenige Momente vor Beginn wird die Kamera eingeschaltet, virtuelle Hintergründe verdecken jedes persönliche Detail des heimischen Büros, produktive Diskussionen nach Vorträgen finden selten statt.
Das Lernen und Arbeiten hat sich durch die Coronapandemie stark verändert und führt auch zur Frage: Brauchen wir für Innovation, kreatives Arbeiten und kollektive Entscheidungsfindung die physische Präsenz aller Beteiligten und den unmittelbaren Austausch?
Dr. Klaus Harnack ist sich sicher, dass es Möglichkeiten gibt, virtuelle Kommunikations-Tools in diesem Sinne zu nutzen. „Aktuell tun wir das durch immer gleich ablaufende Zoom-Sitzungen allerdings nicht“, betont der WWU-Psychologe.
Auf die Videoplattform Zoom sind seit der Pandemie viele Unternehmen ausgewichen, um Präsenz-Meetings in die digitale Welt zu verlagern. Der Umsatz des amerikanischen Unternehmens stieg um mehr als 600 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren. Die WWU erwarb ebenfalls eine Campuslizenz für alle Universitätsangehörigen, um die Online-Lehre und die Arbeit im Homeoffice zu organisieren. Das veränderte die gewohnten Abläufe weitreichend.
„Kommunikation ist eine elementare Stellschraube der gemeinsamen Zusammenarbeit. Verändert sie sich, ändert sich auch unsere Wahrnehmung und unser Verhalten“, erklärt Klaus Harnack, der am Institut für Psychologie der WWU vor allem zu Konfliktmanagement und Mediation forscht. Die plötzliche Umstellung und die fehlende Routine habe viele Menschen zunächst verunsichert.
Dabei bietet die virtuelle Kommunikation viele Vorteile, wie Prof. Dr. Guido Hertel weiß. „Gerade wenn es darum geht, sich zwischendurch kurz auszutauschen und auf der Sachebene zusammenzuarbeiten, sind Systeme wie Zoom kaum zu schlagen“, erklärt der Organisationspsychologe, der mit seinem Team seit Jahren die Digitalisierung von Arbeitsprozessen erforscht.
Besonders bei Entscheidungen oder Gruppendiskussionen verengen die aktuellen Nutzungsgewohnheiten von Zoom und Co. die Kommunikation jedoch eher, findet Klaus Harnack. „Videokonferenzen sind sehr linear. Man tauscht sich beispielsweise nicht mit Blicken aus oder redet im Seminar mit seinem Sitznachbarn“, erläutert er. Dadurch verschärfe sich das Unbehagen, etwas zur Diskussion beizutragen. „Da die Aufmerksamkeit viel stärker auf die sprechende Person gerichtet ist, trauen sich einige nicht, Informationen zu teilen, die für die Gruppe wichtig wären.“
Dass die permanente Kommunikation via Videokonferenzen durchaus kontraproduktiv für Gruppenentscheidungen und kreatives Arbeiten sei, bestätigt auch Hennig Stroers, Geschäftsführer des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik.
„Unsere Erfahrungen mit Unternehmen aus unterschiedlichen Branche und mit unterschiedlichen Größen zeigen, dass regelmäßige Videokonferenzen häufig fokussiert geführt werden und wenig Raum für den Prozess der Ideenfindung lassen, der sich oftmals in Gesprächen ‚zwischen Tür und Angel‘ entwickelt.“ Er empfiehlt einen Mix zwischen dem persönlichen Austausch im Büro und dem Arbeiten von Zuhause, um den Bedürfnissen der Mitarbeiter und ihrer Tätigkeit entgegen zu kommen.
Klaus Harnack ist es wichtig, den Blick nicht allein auf die negativen Konsequenzen zu richten, sondern Lösungsansätze für diese Herausforderungen zu erarbeiten und den gegenseitigen Austausch virtuell zu kultivieren. In seinen Seminaren geht der Trainer für Entscheidungsfindung und Mediation daher mit gutem Beispiel voran. „Ein wesentlicher Baustein für gute Gruppenprozesse ist, die Partizipation aller Beteiligten zu erhöhen“, weiß er.
Bei Terminen ist er deshalb bereits einige Zeit vor Beginn der Treffen im Zoom-Raum, um die Teilnehmer in ein Gespräch zu verwickeln. „Zudem kann man Zoom sinnvoll ergänzen, indem man beispielsweise eine weiße Wand zum Greenscreen umfunktioniert, um Grafiken anschaulich zu erklären. Außerdem können Dozenten und Moderatoren zusätzliche Programme nutzen, um die Gefühle der Gruppenmitglieder durch Abstimmungen oder ähnliches einzufangen.“
Darüber hinaus wünscht sich Klaus Harnack, dass die aktuellen Möglichkeiten der virtuellen Kommunikation weitergedacht werden, um nach der Pandemie neben den wiederkehrenden Präsenz-Treffen weiterhin einen Mehrwert bieten zu können. „Ich arbeite an impliziten Feedbacksystemen, die zukünftig in Videokonferenzen integriert werden könnten. Bei dem System 'SOL' wird beispielsweise das Licht im Raum des Dozenten verändert, je nach dem, ob die Gruppe per Abstimmung dem Gesagten zustimmt oder widerspricht", erklärt er.
Hier setzt auch die Forschung von Guido Hertel an. Gemeinsam mit anderen Disziplinen an der WWU beschäftigt sich seine Arbeitsgruppe damit, wie Arbeiten in der Zukunft aussehen könnte. „Mittels sogenannter Virtual-Reality Technologie kann zum Beispiel die Arbeitsumgebung verändert und Kreativität gesteigert werden. Außerdem zeigt unsere Forschung, dass Teamarbeit in in der virtuellen Realität eine stärkere Immersion ermöglicht, also ein Eintauchen in die Erfahrung, wodurch die Zusammenarbeit sogar noch produktiver sein kann als in Präsenz“, erläutert er.
Die alleinige virtuelle Kommunikation ohne einen gemeinsamen Ort des Zusammenarbeitens sieht auch Dr. Eike Wenzel, Gründer und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung in Heidelberg, nicht als künftige Arbeitsform. „Das Büro wird definitiv nicht sterben. Es wird jedoch um seine Nutzer mit zusätzlichen Anreizen kämpfen müssen“, resümiert der Trendforscher.
Klaus Harnack plädiert für ein produktives Miteinander. „Die Coronapandemie hat in vielerlei Hinsicht einen katalytischen Effekt. Wir müssen den Mut haben, neue Kommunikationsformen auszuprobieren, Risiken einzugehen und zu prüfen, welche Chancen uns virtuelle Kommunikation bietet“, fordert er.
WWU Münster (upm/jah). Autorin: Autorin: Jana Haack. Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung „wissen|leben“ Nr. 5, 14. Juli 2021.
Foto: WWU - Jana Haack. Videokonferenzen sind in der Lehre und Forschung sowie für die Arbeit der WWU-Beschäftigten während der Corona-Pandemie unverzichtbar geworden.