Die Zahl der aktuell in Afghanistan befindlichen Deutschen schätzt das Auswärtige Amt nach seinen Angaben auf eine hohe zweistellige Zahl - Bundeswehrangehörige und anderes "entsandtes Personal", etwa in der Botschaft, würden dabei nicht mitgerechnet.
Die USA hatten am Vortag die Entsendung von rund 3000 Soldaten in die Hauptstadt Kabul angekündigt. Sie sollen bei der Evakuierung von US-Botschaftsmitarbeitern helfen. Auch Großbritannien wollte 600 weitere Soldaten entsenden, die bei der Ausreise britischer Staatsbürger und früherer afghanischer Ortskräfte helfen sollen.
Dagegen kündigte die Bundesregierung zunächst nur an, dass bis Monatsende eine "größere Anzahl" von weiteren Ex-Ortskräften und deren Angehörigen aus Afghanistan ausgeflogen werden sollen. Dafür werde das Auswärtige Amt ein bis zwei Charterflüge organisieren, teilte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Donnerstag mit.
Zu weiteren möglichen Evakuierungsmaßnahmen äußerte sich die Bundesregierung zunächst nur vage. Die von den USA eingerichtete Luftbrücke soll aber nicht für Ex-Helfer der Bundeswehr genutzt werden, wie aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Politikerin Margarete Bause hervorging.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sicherte die rasche Aufnahme ehemaliger Ortskräfte zu, ohne jedoch konkrete Schritte zu nennen. "Ob Charterflüge oder Visaerteilung nach Ankunft in Deutschland: Ich unterstütze alle Maßnahmen, die eine schnelle Ausreise unserer Ortskräfte und ihrer Familien ermöglichen", erklärte er.
Es wird befürchtet, dass die Taliban Racheakte gegen vormalige afghanische Mitarbeiter der westlichen Staaten verüben könnten. Seit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan kamen deshalb laut Verteidigungsministerium bis einschließlich Dienstag 353 ehemalige Ortskräfte nach Deutschland. Hinzu kamen 1433 Familienangehörige.
Viele frühere afghanische Mitarbeiter deutscher Institutionen halten sich jedoch noch mit ihren Angehörigen in Afghanistan auf, unter anderem wegen bürokratischer Hürden. Auch müssen die früheren Ortskräfte ihre Ausreise nach Deutschland bislang selbst organisieren, während etwa die USA diese Menschen ausfliegen.
Bei der Nato in Brüssel war für Freitagnachmittag eine Dringlichkeitssitzung zu den Evakuierungsmaßnahmen geplant. Von Seiten des Auswärtigen Amts in Berlin hieß es, die Bundesregierung beobachte die Maßnahmen anderer Staaten und koordiniere sich mit den Partnern "sehr eng".
Die SPD-Verteidigungsexpertin Siemtje Möller warnte, wenn die Ex-Ortskräfte nicht bald das Land verlassen könnten, "ist es zu spät". Auch der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour verlangte eine "schnelle, bürokratiefreie Überführung der Menschen, die in Lebensgefahr sind, weil sie den Deutschen geholfen haben". Die USA seien "da viel beherzter, das sollten wir nachmachen".
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl verwies auf tägliche Anrufe "verzweifelter Menschen", darunter "Ortskräfte, die nicht wissen, wo sie sich hinwenden sollen, um Hilfe zu bekommen." Geschäftsführer Günter Burkhardt forderte auch die umgehende Notaufnahme von Angehörigen in Deutschland lebender Afghanen, deren Anträge auf Familiennachzug bislang nicht genehmigt oder noch nicht bearbeitet wurden.
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) appellierte an die Bundesregierung, auch afghanische Journalisten und Informanten nach Deutschland einreisen zu lassen. Die Taliban machten Jagd auf unabhängige Journalisten und Mitarbeiter westlicher Medien, erklärte DJV-Chef Frank Überall.
Die Taliban nahmen in den vergangenen Tagen mehrere weitere Provinzhauptstädte ein. Am Freitag standen sie nach Eroberung der Provinzhauptstadt Pul-i-Alam nur noch 50 Kilometer vor der Hauptstadt Kabul, wie ein Regionalparlamentarier der Provinz Logar mitteilte.
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