Am Montag patrouillierten schwer bewaffnete Kämpfer der Miliz in den Straßen von Kabul, nachdem sie am Vorabend den Präsidentenpalast eingenommen und dort ihren Sieg über die afghanische Regierung gefeiert hatten. Am Flughafen der Hauptstadt spielten sich derweil chaotische Szenen ab: Tausende Menschen versuchten verzweifelt, einen Platz für einen Evakuierungsflug zu erwischen.
Die Taliban hatten am Sonntag nach einem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan die Hauptstadt erreicht. Die afghanische Regierung erklärte sich zur Machtübergabe bereit, Präsident Aschraf Ghani floh ins Ausland. In einer Facebook-Botschaft gestand er die Niederlage gegen die Taliban ein.
Am Flughafen von Kabul drängten sich am Montag tausende Zivilisten, die aus Angst vor einer erneuten Schreckensherrschaft der Taliban das Land verlassen wollten. Die US-Regierung entsandte 6000 Soldaten zur Sicherung des Flughafens. US-Soldaten feuerten Schüsse in die Luft, um die Menge zu kontrollieren. Zeugen berichteten von mindestens einem Mädchen, das in dem Chaos am Flughafen ums Leben kam.
Die Flughafenverwaltung stellte derweil den kommerziellen Flugverkehr ein und begründete dies mit möglichen "Plünderungen und Verwüstungen". Internationale Fluggesellschaften, darunter auch die Lufthansa, setzten ihre Überflüge über Afghanistan aus.
Deutschland, die USA und andere westliche Staaten arbeiteten mit Hochdruck daran, ihre Staatsbürger und afghanische Mitarbeiter auszufliegen. Die deutsche Luftwaffe entsandte am Montag mehrere Transportflugzeuge in Richtung Afghanistan. Bereits in der Nacht waren rund 40 Botschaftsmitarbeiter in einem US-Flugzeug nach Katar ausgeflogen worden.
In Kabul war es am Montag vergleichsweise ruhig: Die Straßen waren weniger belebt als am Vortag, während die Islamisten Kontrollposten in der Stadt errichteten. Ein Taliban-Sprecher teilte mit, dass "niemand ohne Erlaubnis das Haus eines anderen betreten darf". Tausende Kämpfer sollen demnach auf dem Weg nach Kabul sein, um dort für "Sicherheit" zu sorgen.
Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der Gründer der Taliban, rief die Milizionäre in einem Online-Video zur Disziplin auf: "Jetzt ist es an der Zeit, zu beweisen, dass wir unserer Nation dienen und für Sicherheit und ein angenehmes Leben sorgen können."
Die schnelle Machtübernahme der Taliban hat in den westlichen Staaten Fassungslosigkeit und große Sorge um die Zukunft des Landes ausgelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich erschüttert über die Lage in Afghanistan: "Für die vielen, die an Fortschritt und Freiheit gebaut haben - vor allem die Frauen - , sind das bittere Ereignisse", wurde Merkel gegenüber AFP zitiert.
UN-Generalsekretär António Guterres rief die Islamisten zur Zurückhaltung auf. Er sorge sich insbesondere um die Zukunft der Frauen und Mädchen in Afghanistan, erklärte er. Die Miliz teilte auf Twitter mit, junge Mädchen dürften am Montag wie gewohnt zur Schule gehen.
Der UN-Sicherheitsrat in New York wollte am Montag zusammenkommen, um über die Lage in dem krisengeschüttelten Land zu beraten. Die Taliban hoffen auf die internationale Anerkennung als Führung Afghanistans.
China erklärte sich am Montag als erstes Land zu "freundlichen Beziehungen" mit den neuen Machthabern bereit. "China respektiert das Recht des afghanischen Volkes, unabhängig sein eigenes Schicksal zu entscheiden", erklärte eine Außenamtssprecherin. Die russische Regierung will eine Anerkennung der Taliban nach eigenen Angaben von deren "Verhalten" abhängig machen.
Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace erklärte hingegen, dies sei "nicht der richtige Zeitpunkt", um das Regime anzuerkennen. Die Machtübernahme der Islamisten bezeichnete er als "Versagen der internationalen Gemeinschaft".
Die afghanischen Streitkräfte waren ohne die Unterstützung des US-Militärs dem Vormarsch der Taliban beinahe machtlos gegenübergestanden. Dennoch schockierte der rasche Zusammenbruch der afghanischen Regierung die Verantwortlichen in den westlichen Regierungszentralen. Kritikern zufolge hat insbesondere der Ruf der USA als Weltmacht damit schweren Schaden erlitten.
noe/ju
David FOX / © Agence France-Presse