Münster (SMS) Seit dem Sommer 2000 gibt es die "Notfallbegleitung Münster" (NFB). Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn Feuerwehr, Rettungsdienst oder Polizei unmittelbare Opfer und auch Betroffene eines Notfalles erstversorgt haben, diese aber weitere Unterstützung benötigen.
Am 20. August feiert die "Notfallbegleitung Münster" nun ihr 20-jähriges Jubiläum. Aufgrund der pandemischen Lage konnte das eigentliche Datum im vergangenen Jahr nicht wie geplant wahrgenommen werden.
Aktuell stehen 20 ehrenamtliche Mitarbeitende 24 Stunden am Tag bereit, um in Krisensituationen bei Angehörigen, Zeugen oder auch den Rettungskräften selbst "erste Hilfe für die Seele" zu leisten. Allein im Jahr 2020 kamen sie rund 60 Mal zum Einsatz, beauftragt von der Leitstelle der Feuerwehr. Bei diesen Einsätzen handelt es sich zum Beispiel um Ereignisse mit Todesfolge, Brände, Verkehrsunfälle oder große Einsatzlagen – wie zum Beispiel die Amoklage 2018 in Münsters Innenstadt.
Die Mitarbeitenden der Einsatzgruppe kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen – von der Humanmedizin über Sozialpädagogik bis hin zur Seelsorge oder Krankenpflege. Die Leitung der NFB hat der "Arbeitskreis Notfallbegleitung". Er setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern von Feuerwehr und Polizei, dem Malteser Hilfsdienst (MHD) sowie der katholischen und evangelischen Kirche. Schirmherr ist Oberbürgermeister Markus Lewe.
Kurzinterviews
"Kontrolle über das Leben gewinnen"
Drei Fragen an … Christoph Lamers, NFB-Mitglied seit 1999
Was hat Sie dazu veranlasst, ehrenamtlich bei der NFB mitzuwirken?
Während meiner beruflichen Tätigkeit für die Feuerwehr habe ich einige Einsätze im Rettungsdienst miterlebt, bei denen die Einsatzkräfte Menschen beispielsweise nach einem plötzlichen Todesfall allein zurücklassen mussten, ohne dass sich jemand in dieser Situation um sie kümmern konnte. Dann las ich 1999 in der Tageszeitung, dass hier in Münster eine Organisation ins Leben gerufen werden soll, die Menschen gerade in solchen Situationen zur Seite stehen will. Das erschien mir ein ganz wichtiges Anliegen; deshalb habe ich mich damals entschlossen, mich in der Notfallbegleitung zu engagieren.
Gab es ein besonders prägendes Ereignis hier in Münster für Sie?
Für mich war der Einsatz am Tag nach der Loveparade ein sehr einschneidendes Erlebnis: Mit fünf Notfallbegleitern haben wir eine Gruppe von Studierenden betreut, die am Vortag miterleben mussten, wie zwei junge Frauen aus Spanien in der Massenpanik ihr Leben verloren. Bewegend war auch, wie wir einen Tag später die Familien der beiden Frauen betreut haben, die aus Spanien angereist waren.
Was nehmen Sie aus der Zeit bei der NFB mit?
Bereichernd waren für mich die vielen Begegnungen mit den Betroffenen, die zwar oft nur ein oder zwei Stunden angedauert haben, aber trotzdem unglaublich intensiv waren. Schön war es auch, in vielen Einsätzen zu erleben, wie Menschen auch durch uns als Notfallbegleiter es schafften, nach einer Phase völliger Verzweiflung wieder ein Stück Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen.
"Ruhender Pol im Chaos"
Drei Fragen an … Judith Matern, NFB-Mitglied seit 2016
Was hat Sie dazu veranlasst, ehrenamtlich bei der NFB mitzuwirken?
Durch eine berufliche Neuorientierung konnte ich mein bisheriges Ehrenamt nicht weiter ausüben. Während ich auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld war, ist mir ein Artikel über die Notfallbegleitung in die Hände gefallen - den ich sofort wieder weggelegt habe. Ehrenamtliche Tätigkeit ja, unbedingt - aber doch nicht das. Es hatte sich allerdings festgesetzt und letztlich an so vielen Stellen gepasst: persönliche Erfahrungen nach einem vollendeten Suizid in der Familie, Gespräche mit Rettungskräften im Bekanntenkreis, Erfahrungen im seelsorgerischen Bereich und unzählige Beratungsgespräche im beruflichen Umfeld. Also habe ich mich Schritt für Schritt - unsere Ausbildung sieht das auch so vor - in die Notfallbegleitung hineingetastet. Und ja, es passt.
Gab es ein besonders prägendes Ereignis hier in Münster für Sie?
Jeder Einsatz bringt mich mit Menschen in Kontakt, die unterschiedlicher nicht sein könnten: mit Menschen aus allen Schichten, Menschen mit verschiedenen religiösen Überzeugungen oder ohne religiösen Hintergrund, mit alteingesessenen Münsteranerinnen und Münsteranern oder Menschen mit Migrationshintergrund, die in Münster eine Heimat gefunden haben. In dem Augenblick, in dem ich ihnen begegne, haben sie gemeinsam, dass sie gerade einen der schlimmsten Momente ihres Lebens durchleben. Es gibt für mich also kein einzelnes prägendes Ereignis, sondern es ist die Vielzahl und Vielfalt der Begegnungen, die prägt. Zu diesen Begegnungen gehört übrigens auch die gute Zusammenarbeit mit Rettungskräften, Polizei und Bestattern, die meist am Einsatzort anzutreffen sind.
Was nehmen Sie aus der Zeit bei der NFB mit?
Was wir tun, beschreiben wir oft als "Erste Hilfe für die Seele". Darauf sind wir vorbereitet, dafür sind wir ausgebildet. Trotzdem geht man eigentlich mit leeren Händen in den Einsatz, wir haben keine Lösungen oder Patentrezepte: Wir versuchen, ruhender Pol im Chaos zu sein und die Betroffenen dabei zu unterstützen, ein wenig Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen und ihr soziales Netz zu aktivieren. Was in einer solchen Situation hilfreich ist, muss die betroffene Person letzten Endes also selber tun. Es ist bemerkenswert, welche Kräfte Menschen in sich finden können, wenn man sie in den ersten Stunden ein Stück auf diesem schweren Weg begleitet. Das zweite, was ich mitnehme, ist ein nach Einsätzen oft empfundenes Gefühl der Dankbarkeit für die alltäglichen Dinge: Wohnungstür aufschließen, Einsatzjacke ausziehen und mit einer Tasse Tee in der Hand der Stadt beim Aufwachen zuschauen - wie wunderbar normal ist das doch.
Foto: Bilder wie diese gehören zum Alltag von Notfallbegleiterinnen und Notfallbegleitern, Judith Matern (links) erhält Informationen über die vorliegende Notsituation. © Münster