NEU: UN-Bericht warnt vor Vergeltung der Taliban an Ortskräften, USA haben 7000 Menschen ausgeflogen, Deutschland evakuierte bislang 1000 Menschen, 5200 US-Soldaten sichern Kabuler Flughafen, G7 warnen Taliban
Während die Evakuierung ausreisewilliger Menschen aus Afghanistan unter schwierigsten Bedingungen weitergeht, warnt die UNO vor der systematischen Verfolgung von afghanischen Nato-Ortskräften durch die Taliban. Die radikalislamische Miliz führe "Prioritätenlisten" von Menschen, die sie festnehmen wolle, hieß es in einem vertraulichen Dokument, das der Nachrichtenagentur AFP am Donnerstag vorlag. Die G7-Außenminister forderten von den Taliban, die Sicherheit ausreisewilliger Menschen - egal ob Ausländer oder Afghanen - zu garantieren.
Die Machtübernahme der Taliban hatte bei vielen Afghanen Angst vor einer neuerlichen Schreckensherrschaft der Islamisten ausgelöst. Auch die Furcht vor Vergeltungsakten gegen Beschäftigte der früheren afghanischen Regierung und afghanische Mitarbeiter ausländischer Staaten haben dazu geführt, dass zehntausende Menschen das Land verlassen wollen.
Die USA haben nach Militärangaben in den vergangenen Tagen rund 7000 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen. Insgesamt sollen über 30.000 US-Bürger und afghanische Zivilisten in Sicherheit gebracht werden. Angesichts der Menschenmassen am Flughafen solle nun die Zahl der Flugzeuge erhöht und die Kapazität der einzelnen Flugzeuge maximiert werden, sagte der US-General Hank Taylor am Donnerstag.
Die Bundeswehr brachte bis Donnerstag mehr als tausend Menschen außer Landes, neben deutschen Staatsangehörigen auch zahlreiche Afghanen und Angehörige von Drittstaaten. "Was die Soldatinnen und Soldaten, die Bundespolizei und unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort leisten, lässt sich kaum ermessen. Ich bin zutiefst dankbar", erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD).
Am Kabuler Flughafen war die Situation weiter unübersichtlich. Tausende Menschen versuchten, einen Platz auf einem Evakuierungsflug zu bekommen. Viele von ihnen waren in einem Streifen zwischen den von US-Soldaten errichteten Absperrungen und Kontrollpunkten der Taliban gefangen. Nach US-Militärangaben sind 5200 Soldaten zur Sicherung des Flughafens abgestellt.
Im Namen der G7-Staaten forderte der britische Außenminister Dominic Raab die Taliban auf, allen Menschen, die das Land verlassen wollten, sicheres Geleit zu gewähren. Die Staatengruppe tue weiterhin alles, um schutzbedürftige Menschen aus Kabul auszufliegen.
"Ich bin mit meinen Kindern und meiner Familie zum Flughafen gekommen", sagte ein Mann, der bis vor kurzem für eine internationale Nichtregierungsorganisation gearbeitet hatte. Die US-Soldaten und die Taliban hätten Schüsse abgegeben. Die Menschen würden aber dennoch versuchen, auf den Flughafen zu kommen, "weil sie wissen, dass sie außerhalb des Flughafens eine Situation erwartet, die schlimmer ist als der Tod".
US-Präsident Joe Biden räumte in einem Fernsehinterview ein, die USA hätten "Schwierigkeiten", afghanische Helfer in Sicherheit zu bringen. Auch in einem vertraulichen Lagebericht des Bundesverteidigungsministeriums für den Bundestag heißt es, Zugang zum Flughafen hätten aufgrund von Kontrollen der Taliban derzeit "ausschließlich Personen mit ausländischer oder doppelter Staatsbürgerschaft".
Die Taliban hatten inmitten des US-Truppenabzugs in atemberaubendem Tempo die Macht in Afghanistan zurückerobert. Nach der Einnahme der Hauptstadt am Sonntag verstärkten sie ihre Position im Land weiter: Taliban-Anführer Haibatullah Achundsada ordnete die Provinzgouverneure an, alle "politischen Gefangenen" bedingungslos freizulassen.
In Kabul und laut teils ungesicherten Berichten in Online-Netzwerken auch in weiteren Städten gab es kleinere Proteste gegen die Islamisten. In einem Vorort der Hauptstadt posierten Menschen mit afghanischen Flaggen. Die Taliban hatten seit ihrem Einmarsch die afghanischen Fahnen an offiziellen Gebäuden eingeholt und durch ihr weißes Banner mit arabischem Schriftzug ersetzt.
Militärischer Widerstand formierte sich derweil offenbar im Pandschirtal nordöstlich der Hauptstadt. Der frühere Vize-Präsident Amrullah Saleh und Ahmed Massud, Sohn eines berühmten Taliban-Gegners, wollen dort eine Widerstandsgruppe aufbauen. Massud bat in einem Beitrag in der "Washington Post" um US-Unterstützung.
Seinen Kämpfern hätten sich Soldaten und Spezialeinheiten der afghanischen Armee angeschlossen, erklärte Massud. Angesichts des vielen US-Kriegsgerätes, das die Taliban bei ihrem Eroberungsfeldzug von der afghanischen Armee erbeutet hätten, bräuchten die Taliban-Gegner aber "mehr Waffen, mehr Munition und mehr Nachschub".
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© Agence France-Presse