Vor der Reise von Bundesaußenminister Heiko Maas nach Tadschikistan, Usbekistan und Pakistan am Sonntag (29.08.) appelliert Reporter ohne Grenzen (RSF) dringend an die Bundesregierung, afghanischen Medienschaffenden, die sich in Nachbarländern aufhalten, grundsätzlich schnell und unbürokratisch Visa für Deutschland auszustellen. Da sich das Zeitfenster für Evakuierungen per Flugzeug aus Kabul in wenigen Tagen schließen wird, versuchen mehrere gefährdete Journalistinnen und Journalisten, in Drittländer zu fliehen oder sind dort bereits angekommen. Geflüchteten afghanischen Staatsangehörigen in Drittstaaten erteilt die Bundesrepublik allerdings nur im Einzelfall Visa, wie das Auswärtige Amt RSF in der vergangenen Woche mitgeteilt hat.
Die Organisation kritisiert zudem das völlig intransparente Vorgehen der Bundesregierung. RSF hat in den vergangenen zwei Wochen mehrmals eine aktualisierte Namensliste mit besonders gefährdeten afghanischen Journalistinnen und Journalisten an das für Afghanistan verantwortliche Lagezentrum der Bundesregierung geschickt. Bis heute ist unklar, welche Listen am Flughafen in Kabul vorlagen. RSF hat sich zudem auf mehreren Ebenen an das Auswärtige Amt gewandt, außer Vertröstungen jedoch keine konkrete Rückmeldung erhalten. Unklar ist trotz RSF-Nachfragen auch, wen die Bundesregierung „bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat“, wie das Auswärtige Amt auf seiner Seite schreibt. Nur diese Personen können potenziell ein Visum für Deutschland beantragen.
Die Aussage ist aus Sicht von RSF problematisch, da nicht alle betroffenen Journalistinnen und Journalisten bis zum Stichtag erfasst wurden. Auf der Namensliste von RSF stehen Medienschaffende, die in Lebensgefahr schweben. Wie akut die Gefahr ist, zeigt auf tragische Weise das Schicksal des Journalisten Ali Reza Ahmadi. Auch er war unter den Medienschaffenden, die bei RSF Hilfe suchten. Er kam am Donnerstag bei den Bombenanschlägen am Flughafen Kabul ums Leben.
„Angesichts der akuten Gefährdungslage für Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan sind wir schockiert und empört über die intransparente Vorgehensweise und Kommunikation der Bundesregierung. Das Mindeste, was die Behörden jetzt tun müssen, ist umgehend eine verbindliche Grundsatzentscheidung für in Drittstaaten geflüchtete Medienschaffende aus Afghanistan zu treffen. Im schlimmsten Fall werden die Betroffenen aufgegriffen oder müssen schlicht nach Ablauf ihres Bleiberechts nach Afghanistan zurück, wo mit den Taliban einer der größten Feinde der Pressefreiheit weltweit regiert“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.
Verzweifelte Medienschaffende und Familienangehörige
Reporter ohne Grenzen erreichen seit zwei Wochen täglich Dutzende Anfragen verzweifelter Medienschaffender und ihrer Angehörigen. Zuletzt umfasste die Liste der deutschen Sektion der Organisation fast 70 Namen hochgefährdeter afghanischer Journalistinnen und Journalisten, 25 von ihnen sind Frauen. Hinzu kommen mehr als 100 Familienmitglieder. Nach RSF-Informationen wurde bisher nur eine Journalistin, die auf der Liste der Organisation stand, jedoch auch gute Kontakte zur Bundeswehr hatte, aus Kabul ausgeflogen.
Trotz der bisherigen Rückschläge wird RSF weiter alle Hebel in Bewegung setzen, um afghanische Medienschaffende außer Landes zu bringen. Nach RSF-Informationen sind bereits mindestens vier akut gefährdete Medienschaffende auf der Liste in Drittstaaten geflohen. Die Zahl wird in den kommenden Tagen und Wochen vermutlich weiter steigen. Auch die RSF-Sektionen in anderen europäischen Ländern sowie das internationale Sekretariat der Organisation in Paris setzen sich mit allen Kräften für die Ausreise gefährdeter Medienschaffender ein. Während es über die Bundeswehr nur eine Journalistin aus dem Land geschafft hat, haben andere Staaten inzwischen durchaus von RSF unterstützte Medienschaffende aufgenommen. Unter ihnen ist auch Farida Nekzad, Gründerin des Zentrums für den Schutz von Journalistinnen in Afghanistan (CPAWJ), der afghanischen Partnerorganisation von RSF.
Nur Tage nachdem die Taliban behauptet haben, die Pressefreiheit respektieren zu wollen, häufen sich die Berichte über Drohungen, Schikanen und Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan. Vergangene Woche berichtete die Deutsche Welle, dass Taliban-Kämpfer auf der Suche nach einem afghanischen Mitarbeiter des Senders einen Angehörigen des Mannes erschossen haben. Demnach hatten die Taliban von Haus zu Haus nach dem Journalisten gesucht, der zur Zeit in Deutschland arbeitet. Ein weiteres Familienmitglied sei schwer verletzt worden.
Auch ist die Zukunft der in den vergangenen 20 Jahren entstandenen lebendigen und durchaus pluralen Medienlandschaft Afghanistans mit Dutzenden TV- und Radiosendern und nahezu 200 Printmedien mehr als ungewiss. Seit der Machtübernahme der Taliban haben rund 100 private Lokalmedien insbesondere in den Provinzen fernab der Hauptstadt ihre Arbeit eingestellt. Alle lokalen Büros des privaten Fernsehsenders Tolonews TV wurden geschlossen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Afghanistan auf Platz 122 von 180 Staaten.
Titelbild: © picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Wali Sabawoo