Nach Einschätzung der US-Armeeführung sei "ein Anschlag in den nächsten 24 bis 36 Stunden sehr wahrscheinlich", sagte Biden am Samstag. Er kündigte zudem weitere Vergeltungsangriffe gegen den regionalen IS-Ableger Islamischer Staat Provinz Chorasan (IS-K) an, der den Selbstmordanschlag am Donnerstag für sich reklamiert hatte. Auch die US-Botschaft warnte vor einer "spezifischen, glaubwürdigen" Gefahr weiterer Selbstmordanschläge. Eine erhöhte Anschlagsgefahr bestehe am South Gate, am Neuen Innenministerium und am Tor in der Nähe der Pandschir-Tankstelle an der Nordwestseite des Flughafens.
Bei dem Anschlag am Donnerstag waren mehr als hundert Menschen getötet worden - darunter 13 Mitglieder der US-Streitkräfte. Washington reagierte mit einem Drohnenangriff in der Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans. Dabei wurden zwei Logistikexperten des afghanisch-pakistanischen IS-Ablegers Islamischer Staat Provinz Chorasan (IS-K) getötet. Weitere Vergeltungsschläge sollen laut Biden folgen.
Die USA wollen bis Dienstag alle Soldaten aus Afghanistan abziehen. Ironie der Geschichte nach 20 Jahren Militäreinsatz: Um den Ablauf der Evakuierungen sicherzustellen und zum Schutz vor dem IS müssen die US-Soldaten eng mit den Taliban zusammenarbeiten. Taliban-Kämpfer eskortierten Schutzbedürftige, die auf den US-Listen standen, am Sonntag zum Hauptterminal und übergaben sie dort den US-Truppen.
Nach Angaben von Taliban-Sprecher Bilal Karimi übernahmen die Islamisten bereits die Kontrolle über Teile des Flughafens. Das Pentagon betonte jedoch, dass die US-Armee weiter die Kontrolle über die Zugänge zum Flughafengengelände sowie den Betrieb der Evakuierungsflüge habe. Washington bestätigte aber, dass die US-Armee damit begonnen habe, ihre Einsatzkräfte vom Flughafen abzuziehen.
Die westlichen Verbündeten der USA haben ihre Evakuierungsflüge größtenteils eingestellt. Die Bundeswehr hatte am Donnerstag ihre Rettungsmission beendet, ebenso die Niederlande und Australien. Am Freitag folgten unter anderem Frankreich, Spanien, Schweden, Norwegen und die Schweiz. Großbritannien beendete seinen Rettungseinsatz am Samstag.
Nach Angaben der USA haben mehr als 112.000 Menschen über die von den USA koordinierte Luftbrücke Kabul verlassen. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace bedauerte jedoch, über tausend schutzbedürftige Afghanen zurückgelassen zu haben. Auch die Bundeswehr konnte einem Bericht der "Welt am Sonntag" zufolge nur etwa 100 afghanische Ortskräfte mit Familien ausfliegen.
Um humanitäre Einsätze auch nach dem endgültigen Truppenabzug fortsetzen zu können, wollen sich Paris und London am Montag bei den Vereinten Nationen für die Schaffung einer "sicheren Zone" einsetzen, wie der französische Präsident Emmanuel Macron ankündigte. Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats - Frankreich, Großbritannien, die USA, Russland und China - beraten am Montag über die Lage in Afghanistan.
Außenminister Maas startete derweil zu einer mehrtägigen Reise nach Tadschikistan, Usbekistan, Pakistan, Katar sowie in die Türkei. Mit seinen Gesprächen in der Region wolle er deutlich machen: "Deutschlands Engagement endet nicht mit dem Abschluss der militärischen Evakuierungsmission", erklärte Maas. Er wolle sich mit Afghanistans Nachbarstaaten beraten, "wie Deutsche, unsere Ortskräfte und weitere schutzbedürftige Afghaninnen und Afghanen schnell und sicher nach Deutschland gelangen können".
Zahlreiche im Land verbliebene Afghanen fürchten eine neue Schreckensherrschaft der Taliban wie zwischen 1996 und 2001. Die Vereinten Nationen rechnen mit bis zu einer halben Million weiteren afghanischen Flüchtlingen bis Jahresende.
gap/jes
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