stadt40: Seit etwa sechzehn Monaten dominiert Covid-19 die deutsche und internationale Gesellschaft. Unter dem Eindruck rückläufiger Zahlen und weitreichenden Öffnungen: wie sehen Sie die aktuelle Strategie der Bundesregierung, und welche Ideen hat Volt für das künftige Corona-Management, national und international?
Carina Beckmann, Volt: Grundsätzlich stellen wir uns hinter die Wissenschaft und die No-Covid-Strategie. Volt beurteilt die komplexe Pandemiebekämpfung daher kritisch, insbesondere die Schließung jahrzehntelang offener Grenzen wie z.B. auch in unserer EUREGIO Region ohne Beachtung von Inzidenzen und Verflechtungen zwischen den Grenzgebieten. Die Rahmenbedingung zur EU-Freizügigkeit hätten durch dezentrale Lockdown-Ansätze und gemeinsame europäische App-Nutzung und digitaler Kontaktnachverfolgung gesteuert werden können, anstatt Pendler*innen alltäglich vor große Herausforderungen zu stellen.
Zudem sind die Schulen wieder gestartet, die
Strategie für sozialen Austausch und effektives Lernen fehlen jedoch. Mit dem
Positionspapier “Covid und Schulstart” fordern wir diverse Vorkehrungen für ein
besseres Lernumfeld in Präsenz (bundesweit finanzierte Luftreinigungs- und
Belüftungstechniken, flächendeckende Tests, Mund- und Nasenschutz). Das Ziel
ist das Infektionsgeschehen dezentral und vorausschauend in Schach zu halten
und somit die notwendigen sozialen Kontakte beim Lernen unter Hygieneauflagen
während der Corona-Pandemie zu ermöglichen.
stadt40: Während der letzten anderthalb Jahre erhielten Umweltschutz und Klimawandel nur begrenzte Aufmerksamkeit, doch am 24. März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil zum Klimaschutzgesetz, neuen Handlungsbedarf aufgezeigt. Welche Veränderungen strebt Volt nach der Bundestagswahl an?
Carina Beckmann, Volt: Die Klimakrise ist ein Gerechtigkeitsproblem innerhalb und zwischen den Gesellschaften sowie zwischen den Generationen. Wir liefern evidenzbasierte und europäische Konzepte zur Klimaneutralität in Deutschland und ganz Europa bis 2040 (sowie CO2-Neutralität bis 2035). Unsere Klimapolitik geht über Grenzen hinweg und baut auf drei Säulen auf:
Wir setzen die Transformation in die Tat um: Mit der unmittelbaren Energie- und Mobilitätswende, indem wir u.a. Anreize zur Nutzung klimafreundlicher Verkehrsalternativen und Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs schaffen.
Wir beschleunigen die Transformation: U.a. mit einer sozialen und EU-weiten CO2-Bepreisung und dem Umbruch in die Kreislaufwirtschaft.
Wir begegnen den vor uns liegenden Herausforderungen mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und medialer Öffentlichkeit zur Aufklärung.
stadt40: Die Pandemie hat beträchtlichen
wirtschaftlichen Schaden hinterlassen und sowohl Privathaushalte,
Unternehmen und öffentlichen Ausgaben unter Druck gesetzt. Wie möchte Volt die
deutsche, europäische und internationale Wirtschaft (mit)gestalten?
Carina Beckmann, Volt: Volt strebt eine solidarische Gesellschaft der sozialen Absicherung und Chancen an. Das bisherige soziale Sicherungssystem (SGB II & SGB XII) muss angepasst werden, um generationsübergreifender Armut vorzubeugen. Das Ehegattensplitting soll abgeschafft werden, um die daraus resultierenden Mehreinnahmen zur Erhöhung des Kindergeldes auf 300€ pro Monat und Kind durchzusetzen.
Wir möchten eine sozialliberale und
klimaneutrale Wirtschaftspolitik, die Chancen schafft. Dazu streben wir eine
Senkung der Unternehmenssteuer auf Gewinne hin zum mittleren europäischen
Niveau an. Wir setzen auf den Ausbau von Technologien und Digitalisierung.
Gleichzeitig muss die Schuldenbremse temporär ausgesetzt werden, um
Zukunftsinvestitionen hin zu einer Klima schützenden Wirtschaft in öffentliche
Infrastruktur wie dem Gesundheitssystem und Bildung tätigen zu können.
stadt40: Unterrichtsausfälle während der
vergangenen anderthalb Jahre haben die fehlende Digitalisierung an unseren Schulen
offenbart. Außerdem haben viele Schüler einen großen Teil des
Unterrichts verpasst oder nur in Teilen wahrnehmen können. Welche bundesweite
Strategie strebt Volt in den kommenden Jahren an?
Carina Beckmann, Volt: Eine umfassende digitale Infrastruktur ist eine Voraussetzung der inklusiven und stark individualisierten “Schule der Zukunft”. Jede Lehrkraft und jede*r Schüler*in soll mit Lehr-/Lerngeräten ausgestattet werden, IT-Fachpersonal sichert die Wartung der schulischen Infrastruktur, digitale Kompetenzen werden fortlaufend ausgebaut. Wir fordern bundesweite Bildungsstandards und die Etablierung gemeinsamer Bildungsabschlüsse. Die Kultusministerkonferenz wird durch eine Bildungskommission ersetzt, die Reformen bundesländerübergreifend initiiert. Das auf GG Art. 30 basierende Kooperationsverbot soll aufgehoben werden, um eine effektivere Zusammenarbeit auf Bundes- und Landesebene zu ermöglichen. Gleichzeitig soll die Autonomie der Schulen gestärkt werden, sodass vor Ort spezifisch auf Herausforderungen und Zielsetzungen der Schulgemeinschaft eingegangen werden kann.
stadt40: Bereits vor der Pandemie galt unser Gesundheitssystem als unterbesetzt und überlastet. Welche Probleme identifiziert Volt jenseits der Pandemie, und welche Lösungen schlagen Sie vor?
Carina Beckmann, Volt: Die Corona-Pandemie hat Verbesserungsbedarfe hinsichtlich Planung, Ausrichtung und Steuerung des Gesundheitssystems offenbart. Volt möchte, dass alle Gesundheitsfachberufe angemessen vergütet werden sowie Bereitschaftszeiten als volle Arbeitszeiten anerkannt werden. Jugendlichen ohne Berufsausbildung aus der EU soll die Möglichkeit geboten werden, in Deutschland eine Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf zu erlernen. Das Heilpraktikergesetz von 1939 soll gestrichen und ein modernes, bundeseinheitliches Gesundheitsberufegesetz geschaffen werden.
Die aktuelle Finanzierung durch das Fallpauschalensystem in den Krankenhäusern führt dazu, dass Diagnosen ökonomisch und nicht medizinisch indiziert sein können. Wir wollen daher, dass durch eine Bundesgesundheitskommission eine Reform für eine ganzheitliche Finanzierung des Gesundheitssystems über alle Sektoren hinweg entwickelt wird.
stadt40: Gesetzt den Fall, Ihre Partei würde den von Ihnen gewünschten Erfolg erlangen, welche Koalitionen wünschen Sie und Volt sich? Gibt es Partner, die Sie von vornherein ausschließen oder ablehnen?
Carina Beckmann, Volt: Wähler*innen wählen Volt, weil sie sich über unsere Forderungen und unser Bekenntnis zu mehr Europa definieren. Wir sind eine Europapartei, in erster Linie setzen wir uns also für eine europäische Einigung und eine grenzübergreifende Zusammenarbeit auf allen Ebenen ein. In unserem Programm vereinen wir soziale, liberale und grüne Aspekte. Wir wünschen uns also eine Koalition, in der wir unsere Ziele umsetzen können und in der entsprechend derselben inhaltlichen Ziele verfolgt werden. Folglich sind Bündnisse mit Parteien, die rechtsgerichtete, menschenverachtende und ausgrenzende Politik betreiben – wie, die AfD – ausgeschlossen.
stadt40: Ihre Partei sieht sich häufig – aufgrund ihres liberalistischen Programms – den Vorwurf ausgesetzt, eine thematische Nähe zur FDP innezuhaben. Was unterscheidet Sie von der FDP?
Carina Beckmann, Volt: Unsere Politik ist pragmatisch und sachlich orientiert, daher teilen wir einige liberale Elemente mit der FDP, aber auch soziale Elemente von Linke oder SPD und ökologische Aspekte mit den Grünen - sofern diese der notwendigen Lösung entsprechen. Unser Ansatz Politik zu machen ist einzigartig und basiert auf vier Grundprinzipien:
Paneuropäisch - wir
handeln und denken Politik über Grenzen hinweg. Dabei profitieren wir
davon, dass Volt eine echte Europapartei ist, uns gibt es in allen
europäischen Ländern mit einem einheitlichen Rahmenprogramm.
Evidenzbasiert - unsere Inhalte sind immer wissenschaftlich fundiert und orientieren sich an Best Practices, also Inhalten, die bereits anderswo erprobt und erfolgreich implementiert wurden.
Integrativ - wir geben allen Menschen die
Möglichkeit, mitzumachen - egal ob Mitglied oder Freiwillige*r.
Bewegungspolitik - wir denken wie eine Partei
und handeln wie eine Bewegung. Veränderung geschieht durch Wahlen UND durch das
Handeln aller Bürger*innen auch außerhalb von Parlamenten.
stadt40: Wir danken Carina Beckmann für das Interview und wünschen Ihr und Ihrer Partei alles Gute und viel Erfolg!