Die Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC), Shaharzad Akbar, wirft der internationalen Gemeinschaft schwere Versäumnisse in Afghanistan vor. „Das Thema Gerechtigkeit und Menschenrechte haben sie von Anfang an nicht ernst genug genommen“, sagte sie im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag der Themenausgabe „Afghanistan“: 13. September 2021). „Sie haben Menschen unterstützt, die in Gräueltaten verwickelt waren, und das hat eine ganz klare Botschaft an uns Afghanen gesendet.“ Wie die Welt nun wegschaue und sich metaphorisch die Hände wasche, sei „peinlich und beschämend“.
Eine Zusammenarbeit mit der Taliban-Regierung sollte es „auf keinen Fall ohne Gegenleistungen“ geben, stellte Akbar klar. „Die Taliban müssen dafür zwingend die Rechte aller Menschen garantieren.“ Sie müssten in einen politischen Dialog einbezogen werden und an freien und ehrlichen Wahlen teilhaben können. „Dafür braucht es starke Führungskräfte, die Afghanistan politisch, wirtschaftlich und intellektuell vorantreiben können.“ Bis Anfang des Jahres habe sie noch geglaubt, dass das möglich sei. „Aber nun haben wir einen langen Weg vor uns.“
Die 34-Jährige konnte Afghanistan nach eigener Aussage am 15. August, Stunden vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban, mit einem Linienflug in Richtung Istanbul verlassen, wo sie sich seither aufhält. Wegen ihrer Arbeit für den AIHRC hatte sie in ihrer Heimat immer wieder Morddrohungen erhalten.
Das Interview im Wortlaut:
Frau Akbar, Sie sind Vorsitzende der größten Menschenrechtsorganisation in Afghanistan. Am 15. August haben die Taliban auch Kabul übernommen. Wie geht es nun mit Ihrer Arbeit weiter?
Das ist schwer zu sagen. Es ist gut möglich, dass es die Kommission in einer Taliban-Regierung nicht mehr geben wird. Und das bricht mir das Herz. Seit 19 Jahren haben Menschen für diese Institution gekämpft. Über die Jahre haben wir neun Kolleginnen und Kollegen verloren, die aufgrund der Gewalt ums Leben gekommen sind. Viele weitere Mitarbeiter haben ihr Leben riskiert. Das jetzt der Kampf für Menschenrechte aufs Spiel gesetzt wird, ist ein großer Verlust für Afghanistan.
Wo halten Sie sich gerade auf?
Ich bin jetzt in Istanbul und habe keinen konkreten Plan, wie es weitergehen soll. Ich versuche weiterhin, meine Arbeit zu machen – da geht es jetzt besonders darum, Kollegen und Kolleginnen, die noch in Afghanistan sind, in Sicherheit zu bringen. Aber ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Ich bin bestürzt, verbringe viel Zeit mit meiner Familie und trauere ununterbrochen.
Wie konnten Sie Afghanistan verlassen?
Ich bin tatsächlich noch am Morgen des 15. August, dem Tag, an dem die Taliban Kabul übernahmen, mit einem Linienflug ausgeflogen. Mir war bereits klar, dass die Situation jeden Moment eskalieren könnte. Als ich gelandet bin, hat sich dies bestätigt.
Wie haben Sie sich bei der Abreise gefühlt?
Es war sehr schwer und emotional. Ich musste versuchen, mein ganzen Leben in einen Koffer zu packen, und Menschen, die mir lieb sind, zurücklassen. Aber es gab kaum eine andere Wahl, besonders für meinen Sohn. Natürlich kann ich meine Reise nicht mit den Menschen vergleichen, die tatsächlich mit einem Evakuierungsflug das Land verlassen mussten – eine traumatische Situation.
Die Taliban haben bereits angekündigt, dass Frauen die Arbeit in hohen Regierungspositionen nicht gewährt werden soll. Wie gehen Sie damit persönlich um?
Ich mache mir um die Zukunft der afghanischen Frauen große Sorgen, denn es ist wahrscheinlich, dass die Taliban unsere Rechte und Ambitionen einschränken werden. Trotzdem will und kann ich nicht aufgeben, denn ich sehe auch Hoffnung: besonders in dem Widerstand, den die Frauen bereits leisten. Viele gehen in verschiedenen Städten Afghanistans auf die Straße und protestieren; sie lassen sich nicht unterkriegen.
Was war für Sie persönlich der bedeutendste berufliche Erfolg?
In den vergangenen Jahren gab es eine Krise nach der anderen zu bewältigen. Der Konflikt wurde immer schlimmer, besonders seit Beginn der Verhandlungen mit den Taliban und dem von US-Präsident Donald Trump unterzeichneten Deal. Trotz allem haben wir es geschafft, eine Koalition von Menschenrechtlern aufzubauen, in der jeder seine persönlichen Fähigkeiten und Kräfte eingebracht hat. Wir haben uns vor allem für Kriegsopfer eingesetzt und deren Erlebnisse dokumentiert, damit sie eines Tages Gerechtigkeit erfahren dürfen. Darauf bin ich stolz.
Sie haben immer wieder Morddrohungen bekommen. Warum haben Sie trotzdem weitergemacht?
Ich hatte mir das Ziel gesetzt, so lange weiterzumachen, wie es geht. Weil ich fest daran glaube, dass Afghanen ihre Rechte verdienen. Das sehe ich als eine Art Verantwortung gegenüber meinem Land. Inspiriert haben mich dabei immer die afghanischen Frauen und ihre Zielstrebigkeit und Widerstandskraft, die sie sich auch unter den schwersten Bedingungen und größten Herausforderungen bewahrt haben.
Sie haben einen dreijährigen Sohn. Wie ging das zusammen – die Familie und Ihre gefährliche Arbeit?
Mein Sohn ist ein Lichtblick in meinem Leben. In Kabul hatte ich sehr viel Unterstützung. Meine Mutter und meine Geschwister lebten in demselben Wohnblock und haben oft auf meinen Sohn aufgepasst. Heute sind wir – meine Mutter und meine Geschwister – nicht einmal mehr im gleichen Land. Wir sind über mehrere Kontinente zerstreut. Mein Mann und ich verbringen nun viel Zeit mit unserem Sohn, arbeiten aber gleichzeitig weiter.
Wie haben sich die konkreten Bedrohungen auf Ihr Familienleben ausgewirkt?
Das war ganz schwer. Ich habe mir immer schlimme Sorgen um die Sicherheit meines Sohnes gemacht und darum, dass ihm in Afghanistan Schaden zukommen könnte. Dies ging sogar soweit, dass ich mich in der Öffentlichkeit nicht mit meinem Kind gezeigt habe: Ich wollte nicht, dass er mit mir gesehen wird und dadurch eventuell gefährdet ist. Ein Kind in einem Konfliktland großzuziehen, ist eine riesige und gefährliche Herausforderung. Ich hatte viele schlaflose Nächte aus Angst, dass Übeltäter in mein Haus einbrechen und mir und meinem Kind Schaden zufügen könnten.
Wie blicken Sie jetzt nach dem Truppenabzug auf die internationale Gemeinschaft und die Beziehungen zu den USA und anderen Nato-Staaten?
Wir müssen die Beziehungen zu anderen Ländern überdenken, besonders in Bezug auf deren Versagen und Scheitern in Afghanistan. Die Konsequenzen werden jetzt von mehr als 35 Millionen Afghanen getragen; die meisten von diesen sind jung.
Welche Fehler haben die USA und ihre Verbündeten denn Ihrer Meinung nach gemacht?
Die Nato-Staaten hatten in Afghanistan viel Macht und Einfluss. Aber das Thema Gerechtigkeit und Menschenrechte haben sie von Anfang an nicht ernst genug genommen. Sie haben Menschen unterstützt, die in Gräueltaten verwickelt waren, und das hat eine ganz klare Botschaft an uns Afghanen gesendet. Es wurde oft versucht, eine Abkürzung zu finden, um die Situation in unserem Land zu verbessern, doch dies geschah immer auf Kosten der Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Daher würde ich mir jetzt mehr Demut von der internationalen Gemeinschaft wünschen.
Wie meinen Sie das?
Natürlich müssen auch wir Afghanen über unser Handeln nachdenken, aber zu sehen, wie die Welt nun wegschaut und sich metaphorisch die Hände wäscht – das ist peinlich und beschämend.
Sehen Sie gar keine Erfolge?
Natürlich hat die internationale Gemeinschaft auch sehr viel für Afghanistan getan. Vor allem hat sie Türen für Frauen geöffnet und einen institutionellen Rahmen geschaffen, um Gerechtigkeit und Gleichheit für alle zu unterstützen. Es wurde auch stark in das Bildungs- und Gesundheitswesen investiert – wenngleich viel mehr in den Sicherheitsapparat. Das hat Millionen von Afghanen geholfen und besonders auch Frauen, die in den vergangenen
20 Jahren deutlich mehr Chancen und Rechte hatten. Die Hilfe der internationalen Gemeinschaft war nicht perfekt, aber es ging uns sicher viel besser als zu Zeiten der Taliban.
Die Bundesregierung will mit den Taliban verhandeln, um weiter Menschen aus Afghanistan zu evakuieren und humanitäre Hilfe leisten zu können. Halten Sie das für richtig?
Es ist klar, dass weitere internationale Kooperationen notwendig sind. Doch eine Zusammenarbeit mit der Taliban-Regierung sollte es auf keinen Fall ohne Gegenleistungen geben. Die Taliban müssen dafür zwingend die Rechte aller Menschen garantieren.
Was können Menschen in Deutschland jetzt für Afghanen tun?
Ganz besonders wichtig ist es jetzt, die neuen Flüchtlinge zu unterstützen. Denn vor ihnen liegt eine schwierige Zeit voller Ungewissheiten. Hunderttausende – wenn nicht sogar Millionen – Menschen haben ihre Heimat verlassen, ihre Familien und ihre Habseligkeiten verloren. Sie müssen nun in einem fremden Land, einer fremden Kultur leben und von Neuem beginnen. Dafür brauchen sie Hilfe, ganz praktisch, aber besonders auch emotional.
Haben Sie auch Erwartungen an die Bundesregierung?
Sie sollte Menschenrechtsverteidiger gerade jetzt intensiv unterstützen. Hier ist konkretes Engagement nötig. Den Menschen sollte ein vorübergehender sowie langfristiger Aufenthalt in einem sicheren Land wie Deutschland ermöglicht werden. Wir sind in großer Sorge, besonders um die vielen Frauen, die noch in Afghanistan sind.
Glauben Sie, dass diejenigen, die Afghanistan in den vergangenen Wochen verlassen haben, irgendwann heimkehren werden?
Afghanen lieben ihre Heimat! Deshalb bin ich mir sicher: Sobald es die Situation zulässt und wir wieder sicher in unserem Land leben können, werden viele Menschen heimkehren. Dafür muss aber viel geschehen. Ihnen muss Sicherheit garantiert werden und es muss Rechte geben, besonders für Frauen, die aktiv Teil der Zivilgesellschaft sein wollen.
Haben Sie selbst auch vor zurückkehren?
Ich selbst liebe es zu reisen, doch ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich eines Tages meine Heimat verlassen muss. Es bricht mir das Herz, dass ich nicht weiß, wann ich zurückkehren kann und werde.
Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung Afghanistans?
Ein erster Schritt wäre, Menschen in einen politischen Dialog einzubeziehen und sie an freien und ehrlichen Wahlen teilhaben zu lassen. Dafür braucht es starke Führungskräfte, die Afghanistan politisch, wirtschaftlich und intellektuell vorantreiben können. Konflikte und Korruption müssen enden.
Ist das realisierbar angesichts der jüngsten Entwicklungen?
Bis Anfang des Jahres dachte ich das noch. Aber nun haben wir einen langen Weg vor uns.
Das Gespräch führte Stefanie Glinski. Sie ist freie Journalistin in Kabul.
„Das Parlament“
Deutscher Bundestag