Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Herren Präsidenten des Bundestages, des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichtes,
sehr geehrte Damen und Herren Ministerpräsidenten,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundeskabinett und den Parlamenten,
Exzellenzen,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren hier im Saal und zu Hause an den Bildschirmen,
unser
Nationalfeiertag, dieser Tag der Deutschen Einheit, geht nicht auf ein
Ereignis weit vor unserer Zeit tief in unserer Geschichte zurück.
Vielmehr erinnert er an etwas, das die meisten von uns bewusst miterlebt
haben und das heute vor 31 Jahren unser Leben verändert hat. Der
3. Oktober 1990 steht für die Wiedervereinigung unseres Landes in
Frieden und Freiheit. Diese Freiheit brach nicht einfach über uns
herein, diese Freiheit wurde errungen. Das Land, das wir heute als
wiedervereinigtes feiern, konnte werden, weil es Menschen in der DDR
gab, die für ihre Rechte, für ihre Freiheit, für eine andere
Gesellschaft alles riskiert haben.
Wir stehen in der Schuld
derer, die so viel gewagt haben, die mutig, hoffungsvoll auf die Straße
gegangen sind. Wir dürfen nie vergessen, dass es auch anders hätte
ausgehen können. Wer damals aufstand, wer für die demokratischen Rechte
sprach und demonstrierte, konnte nicht sicher sein, dass es sich lohnen
würde, dass die Revolution gelingen würde, dass es nicht bitter bestraft
würde. Das ist wahrhaftiger Mut.
Auch dürfen wir nie vergessen,
dass die Einheit Deutschlands ohne das Engagement unserer Nachbarn in
Mittel- und Osteuropa undenkbar wäre. Ob in Polen, in Ungarn, in der
Tschechoslowakei – überall gab es Menschen, die mit ihrem Einsatz für
Freiheit und demokratische Mitbestimmung die Teilung Europas überwanden.
Dieser gemeinsame Einsatz führte auch dazu, dass auch die damalige
Sowjetunion die Überwindung des Kalten Krieges geschehen ließ.
Unvergessen
bleibt die Unterstützung unserer Partner im Westen – allen voran der
Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und Großbritanniens. Sie
brachten einem wiedervereinigten Deutschland ein keineswegs
selbstverständliches Vertrauen entgegen. Dieses Vertrauen war über
Jahrzehnte aufgebaut worden – zuvorderst von Staatsmännern wie Konrad
Adenauer, Willy Brandt, Helmut Kohl; und in dieser Stadt will ich auch
Hans-Dietrich Genscher nennen.
Die Früchte all dieser
Anstrengungen, die Chancen, die mit unserer demokratischen Freiheit in
unserem wiedervereinigten Land einhergehen, dürfen wir heute genießen.
Für
mich persönlich, die ich die Erfahrung der Mauer, der SED-Diktatur, der
Angst vor dem Bespitzelungsapparat der Staatssicherheit, der Unfreiheit
und Enge noch kenne, sind das Ende der Teilung und die Demokratie immer
noch und immer wieder etwas Besonders – und zwar weil ich weiß, dass
sie errungen wurden und nicht zuletzt weil man die Demokratie auch
leben, ausfüllen, schützen muss. Sie braucht uns so, wie wir sie
brauchen. Demokratie ist nicht einfach da, sondern wir müssen immer
wieder für sie miteinander arbeiten, jeden Tag.
Manchmal jedoch,
so fürchte ich, gehen wir mit den demokratischen Errungenschaften etwas
zu leichtfertig um, als müssten wir nichts für sie tun, als ob sie sich
von Generation zu Generation ganz selbstverständlich weitergeben ließen.
Wir
erleben aber in dieser Zeit zusehends Angriffe auf so hohe Güter wie
die Pressefreiheit. Wir erleben eine Öffentlichkeit, in der demagogisch
mit Lügen und Desinformation Ressentiments und Hass geschürt werden,
ohne Hemmung und ohne Scham. Da werden nicht nur einzelne Personen oder
Gruppen diffamiert, da werden nicht nur Menschen angegriffen wegen ihrer
Herkunft, ihres Aussehens oder ihres Glaubens – da wird die Demokratie
angegriffen. Nicht weniger als unser gesellschaftlicher Zusammenhalt
steht deshalb auf dem Prüfstand.
Erschütternd sind auch die
vermehrten Anfeindungen von Menschen, die sich für das Gemeinwohl
einsetzen – ob Feuerwehrleute, Rettungssanitäter oder Kommunalpolitiker.
Die verbale Verrohung und Radikalisierung, die da zu erleben sind,
dürfen nicht nur von denen beantwortet werden, die ihr zum Opfer fallen,
sondern müssen von allen zurückgewiesen werden. Denn allzu schnell
münden verbale Attacken in Gewalt – so wie es die Ermordung des Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge hier
in Halle, das Attentat von Hanau oder die Ermordung eines 20-jährigen
Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein zeigten. Soweit darf es gar
nicht erst kommen.
Deshalb müssen wir uns an einem Tag wie heute
auch ehrlich fragen, wie wir miteinander umgehen, wie viel
wechselseitigen Respekt wir vermitteln und wie wir die Demokratie vor
denen schützen, die sie missachten, die sie verachten. Vorurteilen und
Unwissenheit können wir entgegenwirken – durch die Bereitschaft, offen
für andere und ihre Ansichten und Erfahrungen zu sein. Das ist das
Besondere einer Demokratie: dass sie individuelle Überzeugungen und
Lebensentwürfe zulässt und schützt. Wir dürfen verschieden sein, wir
dürfen unsere Vorstellungen vom Glück so entwickeln, wie es uns guttut,
solange das auf dem Boden unserer grundgesetzlichen Ordnung geschieht.
Vielfalt und Unterschiede sind keine Gefahr für die Demokratie; ganz im
Gegenteil. Vielfalt und Unterschiede sind Ausdruck gelebter Freiheit.
Erst recht gilt das für unser wiedervereinigtes Land mit all den bis
1990 durch die Teilung erzwungenen so unterschiedlichen Lebenswegen der
Menschen in Ost und West.
Doch ganz ehrlich, ganz so einfach ist
es häufig nicht. Müssen nicht Menschen meiner Generation und Herkunft
aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch
nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit gleichsam immer wieder neu
beweisen, so als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR,
irgendwie eine Art Zumutung?
Ich möchte Ihnen
dazu ein Beispiel aus meinem Leben erzählen. In einem Ende letzten
Jahres von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben Buch mit vielen
Beiträgen und Positionen zur Geschichte der CDU heißt es in einem der
dort veröffentlichten Aufsätze über mich: „Sie, die als
Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den
Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein ‚von der Pike auf’
sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung sein.“
Die
DDR-Biografie, also eine persönliche Lebensgeschichte von in meinem
Fall 35 Jahren in einem Staat der Diktatur und Repression – „Ballast“?
Dem Duden nach also eine „schwere Last, die“ – in der Regel – „als
Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt wird“ oder als
„unnütze Last, überflüssige Bürde“ abgeworfen werden kann? – Das war
der Duden.
Ich erzähle das hier nicht, um mich zu beklagen. Denn
ich bin nun wirklich die Letzte, die Grund hätte, sich zu beklagen – so
viel Glück, wie mir persönlich in meinem Leben beschieden ist. Ich
erzähle es auch nicht als Bundeskanzlerin. Ich möchte es vielmehr als
Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen,
die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte
in die Deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer
wieder erleben – und zwar als zähle dieses Leben vor der Deutschen
Einheit nicht wirklich. Ballast eben, bestenfalls zum Gewichtsausgleich
tauglich, im Grunde aber als unnütze Last abzuwerfen. Ganz gleich,
welche guten und schlechten Erfahrungen man mitbrachte: Ballast.
Bis
heute – davon bin ich überzeugt – wird zu wenig gesehen, dass die
Wiedervereinigung für die allermeisten Menschen in Westdeutschland im
Wesentlichen bedeutete, dass es weiterging wie zuvor, während sich für
uns Ostdeutsche fast alles veränderte: Politik, Arbeitswelt,
Gesellschaft. Wer in seinem Leben vorankommen wollte, musste sich
natürlich mit verändern.
Jede und jeder kann nach 31 Jahren
Deutscher Einheit eine eigene persönliche Bilanz ziehen. Mit dem Ende
der DDR und mit der endlich gewonnenen Freiheit, sein Denken und Leben
selbst bestimmen zu können, gingen so viele neue Chancen einher. Das war
und ist die eine, die wunderbare Seite.
Zugleich aber fanden
sich nicht wenige, die ihren Weg in der völlig neuen Lebensumwelt zu
gehen versuchten, in einer Sackgasse wieder. So manche berufliche
Fähigkeit, die früher gefragt war, zählte plötzlich wenig oder gar nicht
mehr. Das war die andere Seite. Auch solche deprimierenden Erfahrungen
sind Teil unserer Geschichte. Wir dürfen sie nicht ignorieren oder
vergessen, schon allein aus Respekt vor persönlichen Biografien, aber
auch deshalb nicht, weil die Gestaltung der Einheit unseres Landes kein
abgeschlossener Prozess ist und weil wir darauf achten müssen, dass
nicht plötzlich bei manchen, ganz gleich, ob bewusst oder unbewusst,
ihre Herkunft gegen sie veranschlagt wird.
Auch hierzu möchte ich
Ihnen ein Beispiel aus meinem Leben erzählen. Auch dieses Beispiel
erzähle ich nur, weil ich es bezeichnend und damit am Tag der Deutschen
Einheit bedenkenswert finde. In einem Ende letzten Jahres in der „Welt
am Sonntag“ erschienenen Artikel schrieb ein – im Übrigen von mir sehr
geachteter und geschätzter Journalist und Autor – Bezug nehmend auf eine
Antwort von mir in einer Pressekonferenz am 15. September 2015, unter
anderem: „Und sie tat etwas, was keiner ihrer Amtsvorgänger je getan
hatte: Sie distanzierte sich einen Atemzug lang von der Republik, deren
zweite Dienerin sie doch war. Sie sagte: Wenn man sich dafür
entschuldigen müsse, in der Flüchtlingskrise ein freundliches Gesicht
gezeigt zu haben, ‚dann ist das nicht mein Land’. Da blitzte einen
Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte
Bundesdeutsche und Europäerin ist.“
Keine geborene, sondern
angelernte Bundesdeutsche? Keine geborene, sondern angelernte
Europäerin? Gibt es zwei Sorten von Bundesdeutschen und Europäern – das
Original und die Angelernten, die ihre Zugehörigkeit jeden Tag aufs Neue
beweisen müssen und mit einem Satz wie dem in der Pressekonferenz durch
die Prüfung fallen können? Mit einem Satz, mit dem ich in einer Antwort
auf eine Reporterfrage unter anderem auf die im September 2015 um die
Welt gegangenen Bilder von Bürgerinnen und Bürgern erinnere, die in
München und anderen Orten Flüchtlinge mit offenem Herzen und, ja, mit
einem freundlichen Gesicht am Bahnhof empfangen hatten? Distanziere ich
mich in meiner Antwort tatsächlich von meinem Land? Anders gefragt –
denn darum geht es mir heute hier im Kern –: Wer entscheidet, wer die
Werte und Interessen unseres Landes versteht und wer das nicht tut
beziehungsweise eben nur, um das Wort noch einmal aufzugreifen, in
„angelernter“ Weise? Welches Bild von Wiedervereinigung wird darin
sichtbar? Hier die einen, die seit jeher Bundesdeutsche sind, dort die
anderen, die Hinzugekommen, die sich durch Übung etwas aneignen müssen –
von geborenen und angelernten Europäern gar nicht zu reden?
Was
also ist mein Land? – Ein Land, in dem alle miteinander immer neu
lernen. Ein Land, in dem wir „gemeinsam Zukunft formen“, wie es das
Motto des diesjährigen Tages der Deutschen Einheit sagt. Ein Land, in
dem gerade auch die Erfahrung von Umbrüchen in familiären Biografien, in
dem die Anstrengung, aber auch das Glück, das es bedeuten kann, neu
anfangen zu müssen oder zu dürfen, als eine Erfahrung anerkannt wird,
die uns gemeinsam Zuversicht und Stärke gibt. Ein Land, dessen Erfahrung
der Wiedervereinigung uns auch bei der Bewältigung heutiger
Transformationsprozesse durch Klimaschutz oder digitalen Fortschritt
helfen kann, weil wir mit dieser Erfahrung in besonderer Weise um unsere
Verantwortung wissen, dass jeder Mensch Chancen braucht, dass jede und
jeder Einzelne sich gehört und zugehörig fühlen können muss.
Es
ist ja vor allem dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, aus dem
Veränderungsbereitschaft und Solidarität erwachsen. Beides half uns über
die Mühen der Wiedervereinigung hinweg. Beides half uns auch große
Herausforderungen in den Folgejahren zu bewältigen.
Veränderungsbereitschaft
und Solidarität waren auch die entscheidenden Werte bei der
existentiellen Herausforderung der Pandemie. Ohne die wechselseitige
Fürsorge, ohne die Bereitschaft, sich einzuschränken, um Leben zu
schützen, wäre das nicht möglich gewesen. Ich weiß, dass der Preis sehr
hoch war. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020, also 30 Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung, die Freiheitsrechte einzuschränken, ist mir
ungeheuer schwergefallen. Etwas als politische Notwendigkeit zu
erachten und zugleich als demokratische Zumutung zu empfinden – das
zähle ich zu den schwierigsten Erfahrungen in meiner Amtszeit als
Bundeskanzlerin.
Ohnehin ist unserem Land mit der
Wiedervereinigung insgesamt mehr Verantwortung erwachsen. Und das liegt
nicht allein an der Größe und Leistungsfähigkeit unserer
Volkswirtschaft. Seit über 30 Jahren leben wir Deutsche und Europäer
nicht mehr in der Bipolarität des Kalten Krieges. Europa steht nicht
mehr in dem Maße in der weltweiten Aufmerksamkeit wie zu Zeiten des
Eisernen Vorhangs, der unseren Kontinent teilte. Für uns Europäer
bedeutet das, dass uns mehr Verantwortung zukommt – für unsere eigene
Sicherheit, aber auch für die Stabilität in Nachbarregionen. Kriege,
Krisen und Konflikte auf dem Balkan, in Afghanistan und Afrika machen es
für das wiedervereinte Deutschland unabdingbar, Verantwortung
international neu zu definieren und wahrzunehmen.
Das sagt sich
so leicht, aber das war und ist in der Sicherheitspolitik auch mit
schwierigen, mitunter gefährlichen Einsätzen für unsere Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr verbunden. Was sie in Afghanistan nicht nur,
aber ganz besonders in den letzten dramatischen Tagen in Kabul
ausgehalten und geleistet haben, wird sie sicherlich noch sehr lange
prägen. Wir können nur erahnen, was sie alles gesehen und erlebt haben.
Sie verdienen unseren höchsten Respekt und Dank.
Ein Europa, das
sich seine Freiheit, Sicherheit und seine auf gemeinsamen Werten
beruhende Identität bewahren will, kommt nicht daran vorbei, die
Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in der Außen- und
Sicherheitspolitik zu stärken.
Meine Damen und Herren, durch enge
Zusammenarbeit mit unseren Partnern und Freunden in Europa und der
Welt, durch umsichtige Entscheidungen, durch Engagement und sicherlich
auch durch etwas Glück haben wir seit der Wiedervereinigung viel
erreicht. Auch aus Krisen sind wir gestärkt herausgekommen. Das war nur
möglich, weil sich Menschen für das Gemeinwohl verantwortlich fühlten,
weil sie für sich und für andere im sozialen oder ökologischen Bereich,
bei der Freiwilligen Feuerwehr oder in der Kultur, in den Kirchen, in
der Wissenschaft, der Wirtschaft oder in der Politik Verantwortung
übernahmen. Die Menschen in der DDR, die sich mutig für Freiheit stark
gemacht haben, haben Verantwortung für Freiheit und Demokratie
übernommen. Alle, die an der Einheit mitgearbeitet haben, haben
Verantwortung übernommen.
Unser Land gilt es natürlich weiter zu
gestalten. Wie genau – darüber lässt sich auch künftig trefflich
streiten. Aber wir wissen, dass die Antwort darauf in unseren eigenen
Händen liegt, dass wir einander zuhören und miteinander sprechen müssen,
dass wir Unterschiede, aber vor allem auch Gemeinsames entdecken
werden.
In dem kurzen Film, den wir gerade von den
Einheitsbotschaftern gesehen haben, hat eine Frau so wunderbar gesagt:
„Leute, macht die Türen auf und schaut nach, was dahinter ist.“ Seid
bereit zur Begegnung, seid neugierig aufeinander, erzählt einander eure
Geschichten und haltet Unterschiede aus. Das ist die Lehre aus 31 Jahren
Deutscher Einheit. Wir brauchen Respekt vor den jeweiligen Biografien
und Erfahrungen und auch vor der Demokratie.
Herzlichen Dank.