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CumEx-Files

Er wurde reich, mit unserem Geld. Jetzt lebt er in Dubai. Manche sagen: Er versteckt sich.

Es ist der größte Steuerraub der Geschichte. Drei Jahre nach Veröffentlichung der CumEx-Files zeigt eine internationale Medienkooperation unter Leitung von CORRECTIV, wie Steuerzahler weltweit um 150 Milliarden Euro betrogen wurden. Ein Insider berichtet über die grenzenlosen Deals, Finanzexperten halten den Steuerbetrug noch immer für möglich und Behörden lehnen eine Verantwortung ab.

Es ist der größte Steuerraub in der Geschichte Europas. Eine Bande von Bankern und Anwälten hat die Staatskassen von elf europäischen Ländern ausgeplündert. Wir fanden heraus: 55,2 Milliarden Euro sind weg.

CORRECTIV hat ein Jahr lang recherchiert, zusammen mit 18 Medienpartnern aus zwölf Ländern. Wir haben 180.000 Seiten ausgewertet, mit Insidern gesprochen und uns im Finanzzentrum London als Milliardäre ausgeben.


Story

Er wurde reich, mit unserem Geld. Jetzt lebt er in Dubai. Manche sagen: Er versteckt sich.

Der Mann, der über eine Milliarde Euro aus den Steuerkassen mehrerer Staaten geraubt haben soll, sitzt jetzt in einem Restaurant mit Blick auf einen saftgrünen Golfplatz. Draußen schiebt sich die Hitze durch die Wüste. Weiter hinten erhebt sich die Skyline von Dubai. Der Investmentbanker Sanjay Shah ist hier, um seine Version der Geschichte zu erzählen. Staatsanwälte in mindestens vier Ländern ermitteln gegen ihn wegen sogenannter Cum-Ex-Deals, auch in Deutschland. Allein in Dänemark geht es um einen siebenstelligen Betrag. Shah aber sagt, er sei nicht schuld:  „Wenn da auf einem großen Schild ,Bitte greifen Sie zu‘ steht – dann greife ich zu oder jemand anders tut es.“

Unbeirrt wiederholt er: Alles, was er tat, sei legal gewesen. 

Selbstverständlich gilt auch für Menschen wie Shah die Unschuldsvermutung. Allerdings dürfte es eng für Shah werden, denn inzwischen hat sich der Bundesgerichtshof in Deutschland mit den Deals befasst, die Shah für legal hält. Das Ergebnis des Bundesgerichtshofs in den anderen Fällen war eindeutig: Steuerhinterziehung. Cum-Ex-Geschäfte sind in der Regel illegal. Strafbar.

Der Banker Shah zählte lange zu den Gewinnern eines gewaltigen, wohl betrügerischen Verwirrspiels, bei dem ein Netzwerk aus Banken, Beraterinnen und Investoren mit Tricks, Leerkäufen und ausgeklügelten Handelsmustern Milliarden öffentlicher Gelder ergaunerten – bis auf wenige Ausnahmen straflos, weil viele Staaten sie quasi gewähren ließen. 

Die Betrüger agieren auf einem rasanten, globalisierten Markt mit hochkomplexen Regeln. Auf der anderen Seite stehen überlastete Behörden, schwerfällige Verfahren, starre Strukturen und das Zuständigkeiten-Patchwork der Verwaltung. 

Im Jahr 2018, als viele glaubten, Cum-Ex-Geschäfte seien vor allem ein deutsches Problem, hat ein Team von 38 Reporterinnen und Reportern unter der Leitung von CORRECTIV enthüllt, dass die Betrüger in ganz Europa ihre Geschäfte machten. Doch schon damals dämmerte vielen der Verdacht, dass das nicht das gesamte Ausmaß war.

Drei Jahre nach der ersten Cum-Ex-Recherche hat CORRECTIV wieder eine Gruppe von 30 Journalistinnen und Journalisten zusammengebracht – diesmal von allen fünf Kontinenten. Nun lässt sich klar belegen: Das Cum-Ex-System ist global. Kein Land kann sich sicher fühlen.

2018 haben wir mithilfe von Fachleuten eine Summe errechnet, um den Schaden in Europa zu beziffern: 55,2 Milliarden Euro haben Staaten mit steuergetriebenen Deals wie Cum-Ex-Geschäften verloren. 

Unsere Recherche belegt, dass die tatsächliche Dimension des Cum-Ex-Skandals noch deutlich größer ist. Die Summe, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern weltweit geraubt wurde, geht weit über die 55,2 Milliarden hinaus: Nach Berechnungen von Steuerfachleuten dürften es mindestens 150 Milliarden Euro sein. Fast so viel Geld wie die EU in einem Jahr ausgibt. „Der Schaden könnte sogar noch höher liegen“, sagt der Wirtschaftsprofessor Christoph Spengel, der weltweit Transaktionsdaten zusammen mit seinem Team ausgewertet hat, um die Summe zu errechnen.

Gesamter Steuerschaden

(in Mrd. Euro, 2000–2020)

Spengels Daten zeigen aber noch etwas Beunruhigendes: In Deutschland geht der Raub offenbar weiter, und zwar durch Cum-Cum-Deals, einer speziellen Form steuergetriebener Geschäfte. Der Steuerexperte Spengel sagt: „Cum-Cum-Geschäfte wurden lediglich erschwert, sie sind weiterhin möglich.“

Obwohl ein Gesetz seit 2016 genau das verhindern soll. Obwohl Politiker seitdem beteuern, dass sie nicht mehr möglich sind. 

Das Bundesfinanzministerium (BMF) schreibt dazu per E-Mail an CORRECTIV und ARD-Magazin „Panorama“, dass es keine Hinweise zu konkreten Cum-Cum-Fällen nach 2016 gefunden habe. Es stehe in regelmäßigem Austausch mit den Ländern zu Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäften. Daher, schreibt das von SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz geführte Ministerium, lassen sich die von Spengel berechneten Steuerschäden „auf Grundlage der Angaben der für die Steuerverwaltung zuständigen Länder nicht bestätigen.“

Das Finanzministerium von Scholz scheint nicht die einzige Behörde zu sein, die im Kampf gegen steuergetriebene Deals versagt. Wir haben über das Informationsfreiheitsgesetz Einsicht in Akten beantragt und so einen Einblick bekommen, wie europäische Behörden hinter den Kulissen mit der Problematik der Cum-Ex-Geschäfte und anderer steuergetriebener Deals umgehen. 

Das Bild ist auch drei Jahre nach den Cum-Ex-Enthüllungen verheerend. Europäische Staaten scheitern bei der Bekämpfung des systematischen Steuerbetrugs.

Es fehlt den EU-Staaten am Bewusstsein, dass sie das Problem nur gemeinsam lösen können. Aufsichtsbehörden schieben ihre Verantwortung weg und behaupten, nicht zuständig zu sein. Aber selbst, wenn sie wollen: Oft hindern Gesetze die Behörden daran, wichtige Informationen miteinander zu teilen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks läuft es besser: Die USA haben die Deals vor einigen Jahren erfolgreich gestoppt. 

Währenddessen sitzt Shah in dem Restaurant in der Wüste von Dubai und erzählt ganz offen, dass er wieder loslegen will, sobald es möglich ist. „Wenn ich die Möglichkeit hätte, Geschäfte zu machen“, sagt er. „Ich würde sofort wieder damit anfangen.“

Der Cum-Ex-Banker Sanjay Shah

Wie alle guten Verkäufer ist Sanjay Shah ein redseliger Mensch. Aber kurz vor unserem Gespräch wirkt er vorsichtig. 

Die Kamera steht bereit. Doch Shah will erst beginnen, wenn sein Anwalt da ist. Der steckt noch im Verkehr.

Im weltweiten Cum-Ex-Business soll Shah einer der abgebrühtesten Trader gewesen sein. Shahs Geschäfte: Auf maximale Rendite getrimmt. Shahs Partys: Legendär. Luxusyachten, Formel-1-Wochenenden, Privatkonzerte mit Prince, Elton John oder Ed Sheeran. Deshalb ist ein Team von CORRECTIV und ARD-Magazin „Panorama“ nach Dubai gereist. 

Auch wenn Shah das anders sieht – er war wohl am größten Steuerraub aller Zeiten beteiligt. Eine ganze global vernetzte Branche brachte mit komplizierten Transaktionen Finanzämter dazu, eine einmal gezahlte Steuer mehrfach zu erstatten. Anders gesagt: Es geht bei diesen Geschäften nicht nur darum, Steuern zu vermeiden – Akteure wie Shah holten sich aus den öffentlichen Kassen Gelder, die sie nie eingezahlt hatten.

Cum-Ex heißen diese Art von Deals. Bei den verwandten Cum-Cum-Geschäften tauscht man eine Aktie so, dass man nur einen Teil der anfallenden Steuer zahlt. Man nennt sie auch steuergetriebene Geschäfte, weil die Rendite vom Staat kommt. Es ist Steuergeld.

Solche Geschäfte sind gewissermaßen das perfekte Verbrechen. Kompliziert, abstrakt, weit weg von unserem Alltag. Auf den ersten Blick gibt es keine Opfer. Niemand scheint direkt betroffen. 

Dabei sind wir in Wahrheit alle betroffen. Denn die Milliarden, die Banker, Investoren und Finanzinstitute den Staaten geraubt haben, fehlen woanders: Beim Bau von Schulen, bei der Bezahlung von Ärztinnen oder Pflegekräften oder der Ausbildung von Feuerwehrleuten.

Es ist Geld, das uns allen zusteht.

Wie funktioniert Cum-Ex?

Einfach erklärt: Der Staat zahlt eine nie oder nur einmal gezahlte Steuer mehrmals zurück. Damit machen die Akteure Gewinn, und die Gesellschaft verliert Milliarden an Steuergeldern, die ihr zustehen.

Und so ist der Cum-Ex-Betrug auch eine Geschichte über Ungleichheit. Banker, Broker und steinreiche Investoren – Menschen mit Macht, Geld und Privilegien – greifen in die Kassen, in die wir alle einzahlen.

In Deutschland hat der Staat allein mit Cum-Ex-Deals mehr als sieben Milliarden Euro verloren, mit Cum-Cum 28,5 Milliarden. Insgesamt knapp 36 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Doppelte dessen, was der Afghanistan-Einsatz Deutschland in 20 Jahren gekostet hat. 

Viele große und kleine Banken sind in den Skandal verstrickt, die Deutsche Bank, die Hypovereinsbank, die Commerzbank, die Hamburger Privatbank M.M. Warburg & Co. Die Affäre reicht bis in höchste politische Kreise. Der aktuelle Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD), damals Erster Bürgermeister von Hamburg, traf sich 2016 und 2017 mit dem Chef der Warburg-Bank, die mittlerweile 176 Millionen Euro aus Cum-Ex-Geschäften an den Staat zurückzahlen muss. Das Thema: Cum-Ex. Scholz streitet ab, dass er politischen Einfluss zugunsten der Bank genommen hat. An alles Weitere könne er sich nicht erinnern.

Doch Investmentbanker wie Shah interessieren sich nicht sonderlich für einzelne Länder. Warum nur Deutschland? Geld lässt sich auch in Spanien oder Frankreich, in Japan, Australien oder Südafrika verdienen. Der Marktplatz ist die ganze Welt.

Der Schaden weltweit beträgt umgerechnet mindestens 150 Milliarden Euro. Das haben wir mithilfe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rund um den Mannheimer Wirtschaftsprofessor Christoph Spengel erstmals berechnet. „Es sind unglaubliche Milliardensummen an Steuerausfällen zu verzeichnen, diese Art der steuergetriebenen Geschäfte muss endlich gestoppt werden“, sagt Spengel zu den Ergebnissen. Er forscht seit Jahren zu steuergetriebenen Geschäften.

Das Steuergeld liegt nun auf Konten von Bankern, Tradern und Investoren. Der Banker Shah besaß zwischenzeitlich 25 Immobilien in London. Er lebt in Dubai in einer luxuriösen Villa auf der künstlichen Palmeninsel Jumeirah. Keine 10 Kilometer entfernt von der Restaurant-Bar, an der er nun steht und auf seinen Anwalt wartet.


Von hier aus organisiert er seine Verteidigung. In Dänemark, Belgien, Luxemburg und auch in Deutschland laufen Verfahren gegen ihn. Es kann sein, dass er bald sein Vermögen zurückgeben muss. Vielleicht muss er sogar ins Gefängnis.

Je enger es für Shah wird, desto mehr sucht er die Öffentlichkeit. Flucht nach vorne. Dann kommt Shahs Anwalt durch die Tür, schicker Anzug, die Turnschuhe von Prada. Dagegen wirkt Shah bodenständig. Jeans, Sneaker, T-Shirt. Shah setzt sich ins Scheinwerferlicht, zieht das T-Shirt zurecht, es kann losgehen.

Die Staatsanwältin, die Cum-Ex-Betrüger jagt

Rund 5.000 Kilometer davon entfernt sitzt die Staatsanwältin Anne Brorhilker in ihrem Kölner Büro und muss schmunzeln, als Reporter vom ARD-Magazin „Panorama“ Sanjay Shah erwähnen. Sie kennt ihn, er steht auf ihrer Liste der Beschuldigten. „Er ist sicher einer, der am meisten Risiko eingegangen ist“, sagt sie. Seine Geschäfte seien sehr auffällig gewesen, deshalb sei er schnell aufgeflogen. 

Vor rund acht Jahren landete ein etwas kompliziert wirkender Fall von Finanzkriminalität auf Brorhilkers Schreibtisch. Mittlerweile ist die Jagd nach Cum-Ex-Betrügern zu ihrer Lebensaufgabe geworden. Sie ist Oberstaatsanwältin mit eigener Hauptabteilung, fast 100 Personen arbeiten für sie. Brorhilkers Job: Die Täter ermitteln und das Geld vom Staat zurückholen. Über die Jahre hat sie sich in das Thema eingearbeitet wie kaum jemand in Deutschland.

Brorhilker ist eine freundliche Frau mit trockenem Humor. „Ich finde das meistens sehr lustig, wenn mich jemand versucht anzuschreien“, sagt sie. Man kann sich vorstellen, wie das Macho-Gehabe cholerischer Banker und Rechtsanwälte an ihr abprallt wie ein Flummi von der Zimmerwand.


Correctiv