Spahn drängte trotz der Kritik aus der Ärzteschaft weiter auf Auffrischungsimpfungen für alle. "Aktuell reicht das Booster-Tempo in Deutschlands Praxen nicht. Wir brauchen einen Booster-Gipfel von Bund und Ländern", sagte Spahn der "Bild am Sonntag". Aktuelle Daten aus Israel zeigten, "dass das Boostern einen ganz entscheidenden Unterschied macht, um die vierte Welle zu brechen".
Hochrangige Ärztevertreter stellten sich aber gegen Auffrischungsimpfungen für alle. "Für die Notwendigkeit von Auffrischimpfungen für Menschen jeglichen Alters gibt es bisher keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz", sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) vom Samstag. Kassenärzte-Chef Andreas Gassen warnte vor "blindem Aktionismus".
Die Hausärzte äußerten sich ebenfalls kritisch zu Spahns Aufruf. "Wir sind verärgert, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Erwartungen schürt, Booster-Impfungen seien für alle möglich", sagte Bundesvorstandsmitglied Armin Beck dem RND. "Die Hausärzte folgen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission und diese empfiehlt aktuell Drittimpfungen nur für über 70-Jährige und wenige andere Gruppen."
SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach plädierte seinerseits für eine Wiedereröffnung der Impfzentren. Es gebe "realistischerweise" derzeit nicht viele Möglichkeiten "mit großer Wirkung", schrieb er im Onlinedienst Twitter. Eine von zwei Möglichkeiten sei "eine viel schnellere Boosterimpfung", hob er mit Blick auf Auffrischungsimpfungen hervor. "Dafür müsste man die Impfzentren wieder öffnen."
Als andere Möglichkeit nannte Lauterbach "konsequent 2G anzuwenden" - also nur Geimpfte oder Genesene zu Veranstaltungen oder in Restaurants im Innenbereich einzulassen. "Das senkt die Fallzahlen stark", betonte der SPD-Gesundheitspolitiker.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte einen stärkeren Einsatz von Antikörper-Tests und wie Spahn ebenfalls Booster-Impfungen für alle Altersgruppen. "Die Booster-Impfungen brauchen wir nicht nur für die über 70-Jährigen, sondern für alle", sagte Söder der "Bild am Sonntag". Er betonte: "Eine Drittimpfung nach sechs Monaten ist für jeden sinnvoll."
Die Koalitionsverhandlungen führenden Parteien SPD, Grüne und FDP forderte Söder auf, nicht über die Länder hinweg Entscheidungen in der Corona-Politik zu treffen. "Die Ampel-Parteien müssen sich mit den Ländern beraten", mahnte er. Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) "hätte die Länder nie einfach mit einer Vorgabe überrascht, sondern hätte darüber mit ihnen geredet", sagte er. "Wir müssen uns auch über die Drittimpfungen unterhalten, über Kontrollen reden und Maßnahmen gegen das Fälschen von Impfausweisen planen."
Die Kanzlerin hatte sich zuvor beunruhigt gezeigt angesichts der steigenden Corona-Zahlen. Die aktuelle Entwicklung "bereitet mir große Sorgen", sagte sie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und fügte hinzu: "Sie sollte uns allen Sorgen bereiten." Derzeit mache sich allerdings "schon wieder eine gewisse Leichtfertigkeit breit". Merkel beriet am Wochenende beim G20-Gipfel in Rom insbesondere über Impfhilfen für ärmere Länder.
Das RKI meldete am Sonntag einen Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz auf 149,4. Am Vortag hatte sie bei 145,1 gelegen, vor einer Woche bei 106,3. Der Wert gibt die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen an. Binnen 24 Stunden wurden demnach 16.887 Coronavirus-Neuinfektionen sowie 33 neue Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus verzeichnet.
cp
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