Münster (SMS) In einem Archiv haben die verwahrten Schriftstücke eigentlich eine Signatur und eine zugehörige Beschreibung – so kann man sie leicht auffinden. Ausnahmen bestätigen die Regel: Im Stadtarchiv Münster schlummern einige Schachteln mit der Aufschrift "unverzeichnet", in denen Archivgut noch auf die inhaltliche Bearbeitung wartet. Bei der Durchsicht hält Archivleiter Dr. Peter Worm plötzlich inne: "Was ist denn das – auf diesem Pergament stehen unübersehbar große hebräische Buchstaben!"
Das erhaltene Fragment ist etwa 30 mal 51 Zentimeter groß und mit dreizehn abgeschnittenen Textzeilen gefüllt. Die einzelnen Buchstaben sind zwischen 2,2 und 4 Zentimeter hoch. In die Zwischenräume der hebräischen Zeilen wurden später auf dem Kopf stehend zwei kurze Notizen in niederdeutscher Sprache eingetragen. Sie lassen sich ins ausgehende 14. Jahrhundert datieren. Der hebräische Ursprungstext muss also älter sein und damit aus der Zeit vor dem Judenpogrom von 1350 stammen – einer Zeit, aus der man über das jüdische Leben in Münster nur wenig weiß.
Aber woher stammt das aus seinem Kontext herausgeschnittene Fragment? Wie ist es ins Stadtarchiv gelangt? Welchen Zweck erfüllte es ursprünglich? Über die Herkunft findet sich ein Hinweis auf der Rückseite: Mit einem roten Fettstift ist hier "Ringe" notiert worden. "Es kann nur das Kloster Ringe gemeint sein, ein ursprünglich an der Ludgeristraße gelegenes Beginenhaus und späteres Franziskanerinnen-Kloster, das 1803 aufgelöst wurde", sagt Dr. Peter Worm. Das Archiv der Nonnen fand nach der Auflösung seinen Weg ins Stadtarchiv, vielleicht kam dabei auch das hebräische Schriftstück mit – und zwar als Umschlag für einen Aktenband. Der spätere Zuschnitt des Pergaments und Spuren auf seiner Rückseite lassen annehmen, dass ungefähr DIN A4 große Einzelblätter darin eingeschlagen waren.
Bei der Entzifferung des hebräischen Textes hilft der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Münster, Sharon Fehr: "Der Text stammt aus dem Devarim, dem fünften Buch Mose, und beginnt mit dem Schma Jisrael, einem der wichtigsten Gebete des Judentums." Er fährt fort: "Während der hebräische Text in den Tora-Rollen nur aus Konsonanten besteht, hat man im Mittelalter Lesefassungen der heiligen Texte erstellt und dort Zeichen für Vokale, Akzente und sogenannte Teamim hinzugefügt, die den liturgischen Gesang im Gottesdienst erleichterten. Mit so einer Fassung haben wir es hier wohl zu tun – doch bei einer genaueren Datierung kann ich nicht helfen."
Rat fand das Stadtarchiv bei Prof. Katrin Kogman-Appel, einer ausgewiesenen Spezialistin für jüdische Buchkultur des Mittelalters an der WWU. Da sie zurzeit corona-bedingt in Jerusalem lebt, gehen ihr hochaufgelöste Scans des Fragments zu. Begeistert von der Entdeckung schreibt sie: "Es ist sehr schwer, solche Quadratschriften zu datieren, da sie sie extrem konservativ sind und im Laufe der Zeit nur geringfügigen Änderungen unterlagen. Man kann ungefähr einen Zeitraum von 100 bis 150 Jahren bestimmen, aber keine genaueren Datierungen vornehmen. Dass das Gebetsbuchfragment knapp vor das 14. Jahrhundert datiert werden kann, scheint plausibel. Das Shma-Gebet beginnt oben links mit den ersten zwei Worten eines Segens. Beim Toralesen wird er an dieser Stelle nicht gesprochen. Dieser Teil des hebräischen Textes wäre der Hauptansatzpunkt zur Datierung." Nachdem sie eine zweite Meinung einer Kollegin eingeholt hat, ist klar, dass die Datierung ins 14. Jahrhundert stimmt, aber nicht genauer gefasst werden kann.
Ob das Fragment tatsächlich aus der alten jüdischen Gemeinde Münsters stammt, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Pergamentreste wurden im Mittelalter und der Neuzeit als sogenannte "Makulatur" gehandelt, da man den teuren Werkstoff beim Buchbinden zum Beispiel für den Bucheinband oder Buchrücken oder – wie in diesem Fall - als Umschlag für eine Akte wiederverwendete. Ganz unwahrscheinlich ist es aber nicht: Man kann sich vorstellen, dass der hebräische Gebetstext bei Plünderungen der jüdischen Häuser und der Synagoge im Zuge der Judenverfolgung Mitte des 14. Jahrhunderts in den Handel gelangte und zerschnitten wurde. Später könnte er dann als Aktendeckel im Archiv eines Frauenklosters "recycelt" worden sein.
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