„Ich bin ja absichtlich 80 geworden, ich bin jeden Morgen aufgestanden.“ – was für ein wunderbarer Satz! Treffend und lakonisch zugleich! Dieser Satz, er kann nur von jemand kommen, der es für Quatsch hält, mit 80 zu sagen, man fühle sich jünger als man sei. Sie kennen ihn alle. Lieber Franz Müntefering, man weiß sofort: ein typischer Münte! So trocken, so knapp, so voller Lebensweisheit und Ironie – und das bei einem wahrlich nicht ganz leichten Thema: das Altwerden und das Alter.
Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Einladung, beim Seniorentag – dem 13. – zu sprechen. Wie sehr hatte ich mich darauf gefreut, in Hannover dabei zu sein, und wie sehr hatten wir alle uns gewünscht, dass dieser Seniorentag wie geplant stattfinden könnte. Leider lässt das die dramatische Lage, in der wir jetzt wieder sind, nicht zu. Ich wünsche Ihnen, den Veranstaltern, von ganzem Herzen, dass überall im Land Menschen zugeschaltet sind – und wenigstens digital teilnehmen!
Einige von Ihnen waren sicher auch vor drei Jahren in Dortmund dabei. Wenn Sie sich jetzt fragen, warum der Bundespräsident heute schon wieder spricht, haben Sie recht, die Regel ist das nicht. Aber das Motto des letzten Seniorentages war ja durchaus prophetisch: Brücken bauen. Das passt gut zu der Phase, in der sich unser Land jetzt befindet – im Übergang von der alten zu einer neuen Regierung, auf einer Brücke gewissermaßen. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass ich heute wieder dabei sein kann – wenn auch nicht physisch vor Ort!
Viele der Themen, über die wir damals gesprochen haben, haben nichts an Aktualität und Dringlichkeit verloren – im Gegenteil. Das gilt für jede und jeden Einzelnen, der zu den Älteren in unserem Land gehört. Das gilt aber auch für uns als ganze Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der die Menschen wie in vielen anderen Industrieländern immer älter werden. Das ist ein Geschenk, so empfinden es viele zu Recht, ein Geschenk, das wir dem Fortschritt in der Medizin verdanken.
Dieser Fortschritt hat das Leben im Alter verändert. Er hat aber auch unser Bild vom Alter verändert. Beim Nachdenken über dieses Thema musste ich an ein berühmtes Bild denken, das viele von Ihnen kennen werden. Es ist eine Kohlezeichnung, sie zeigt eine ausgezehrte Frau mit einem Tuch über dem Haar, deren Blick in die Ferne geht. Albrecht Dürers Bildnis gilt als erste realistische Darstellung eines sehr alten Menschen in der europäischen Kunst – sehr alt war seine Mutter Barbara mit 63 Jahren damals. Das Alter war zu Dürers Zeit, in der Renaissance, beschwerlich, geprägt von Krankheit und Leiden.
Wer heute 63 ist, der wird sich oft nicht als alt bezeichnen oder sehen – und will auch nicht so gesehen werden. Der steht noch im Berufsleben oder plant seinen nächsten Lebensabschnitt im aktiven Ruhestand. Der hat viele große Umbrüche erlebt und wird noch einige miterleben, denn er hat im Durchschnitt noch mehr als 20 Jahre Lebenszeit vor sich. Und auch wer 70 und auch 80 ist, ist häufig fit und gesund, geht auf Reisen und wandern, trifft Freunde und Familie, macht Sprachkurse, singt im Chor, und, ganz wichtig, engagiert sich ehrenamtlich.
Aber das ist natürlich nur die eine Seite. Es gibt auch die andere. Viele Menschen empfinden das Alter nicht als Geschenk, und das ist – nicht selten – nur zu verständlich. Ich denke an die, die im Alter mit Armut zu kämpfen haben. Teilhabe, das ist für viele so kaum möglich. Ich denke an die, die an Krankheit und Einsamkeit leiden. Gerade die Einsamkeit ist eine der Schattenseiten einer alternden Gesellschaft, in der die Lebenswelten von jungen und alten Menschen sich immer weiter voneinander entfernen, so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Die Alten sind keine homogene Gruppe. Pointiert gesagt: Die Alten gibt es nicht! Das beginnt schon bei der Frage: Ab wann ist jemand eigentlich alt? Und fühlt man sich so alt, wie man ist, oder ist man so alt, wie man sich fühlt? Da wären wir wieder bei Franz Müntefering. Altersbilder – das Beispiel Dürers zeigt es – unterliegen einem starken Wandel. Ich bin überzeugt, wir müssen das Alter und „die Alten“ viel differenzierter betrachten. Wir müssen die Vielfalt des Alters sehen, um den Bedürfnissen und Wünschen der älteren Menschen gerecht werden zu können.
Gelingen kann das nur, wenn wir das als gemeinsame Aufgabe sehen – eine, die uns alle angeht. Deshalb ist auch das Motto des diesjährigen Seniorentages wieder so gut, so treffend gewählt: „Wir. Alle. Zusammen.“ Ihnen allen möchte ich heute ganz herzlich danken – Ihnen in Hannover, aber auch den vielen Tausenden von Mitarbeitern und Ehrenamtlichen in den Organisationen der Bagso überall in Deutschland. Ich habe riesigen Respekt vor Ihrer Arbeit und danke Ihnen für Ihren Einsatz, Ihre Energie, Ihre Ideen, Ihre Beharrlichkeit gegenüber der Politik! Wir, unser Land, verdanken Ihnen viel!
„Wir. Alle. Zusammen.“ – dieses Motto hat aber ja in dieser Zeit noch eine ganz andere Bedeutung. Niemand von uns hätte sich bei unserem letzten Treffen vorstellen können, wie sehr sich das Leben verändern würde, für „Uns. Alle. Zusammen.“ und für jede und jeden Einzelnen. Dass eine Katastrophe globalen Ausmaßes über uns hereinbrechen würde, die größte Krise der Nachkriegszeit – so wird es empfunden.
In diesem Herbst 2021 müssen wir erkennen, dass wir diese Krise noch längst nicht überwunden haben – im Gegenteil. Die Lage in unserem Land spitzt sich dramatisch zu, Tag für Tag. Jetzt erleben wir, dass die Zahl der Menschen, die sich mit dem Virus infizieren, in immer neue Höhen steigt. Dass in einigen Regionen unseres Landes die Pandemie – anders kann man es kaum noch sagen – außer Kontrolle geraten ist. Dass immer mehr Menschen im Krankenhaus behandelt werden, immer mehr Menschen in den Intensivstationen um ihr Leben ringen müssen. Und wir müssen erleben, dass die Zahl der Menschen, die diesen Kampf verlieren, steigt. Jeden Tag sterben wieder hunderte Menschen. Voraussichtlich noch in dieser Woche werden wir mehr als 100.000 Opfer der Pandemie zu beklagen haben. Das ist eine unfassbare Zahl. Eine Zahl, die wir sicher vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten haben.
Aber vor allem ist es mehr als nur eine Zahl. Es ist eine menschliche Katastrophe. Mich treibt das um, mich schmerzt das zutiefst. Hinter jedem einzelnen Todesopfer steht ein Schicksal, steht ein Mensch, der von uns gegangen ist. Hinter den Zahlen stehen unendliches Leid, unendliche Trauer, unendlicher Schmerz. Wir können und dürfen davor als Gesellschaft nicht die Augen verschließen! Wir schulden den Toten unser Angedenken. Wir schulden ihren Angehörigen und Freunden unsere Anteilnahme! Und wir müssen erkennen, dass es in dieser Pandemie wirklich um Leben und Tod geht!
Ich weiß, wie hart die Pandemie vor allem Ältere getroffen hat, wie viel Leid und Leiden sie verursacht hat: Isolation, Einsamkeit, Verzweiflung. Viele ältere Menschen haben mir von ihren Nöten in Gesprächen erzählt, viele haben mir geschrieben. Nöte, die mich sehr bewegt haben. Isolation, das hieß, die eigenen Kinder, die eigenen Enkel nicht mehr sehen zu dürfen, allein zu Hause oder allein in einem Zimmer im Heim zu sitzen, keinen Besuch zu bekommen, nicht einmal mehr mit anderen zusammen essen zu dürfen – und das oft über Wochen und Monate hinweg.
Und besonders bitter: Die Isolation reichte manchmal bis in den Tod. Viele sind in Krankenhäusern und Heimen einsam gestorben, ohne dass sie ihre Liebsten noch einmal sehen konnten. Wir können kaum ermessen, was das für diese Menschen bedeutet hat. Auch für die Angehörigen war es ein furchtbarer Schmerz, sich nicht verabschieden zu können.
Es gab und gibt viel Leid in dieser Zeit der Pandemie. Aber es gab und gibt auch ein ungeahntes Maß an Solidarität, gerade von Älteren. Dafür und für die Verantwortung, die Sie auf sich genommen haben, möchte Ihnen, den Älteren, ganz herzlich danken!
Danken möchte ich aber auch den Jüngeren! Denn ich glaube, wir, die Älteren – und ich gehöre ja auch dazu – wir tun gut daran, nicht zu vergessen, wie solidarisch die Jungen waren, um uns zu schützen. Sie haben auf vieles verzichtet, verzichten müssen, was das Leben ausmacht, wenn man jung ist. Und viele wurden in ihrer Ausbildung, im Studium, bei ihrem Start ins Leben auf ziemlich rüde Weise ausgebremst. Trotzdem haben viele angepackt, wo es nottat, geholfen, ohne lang zu fragen. Sie haben für den Großvater oder die alte Dame nebenan eingekauft, täglich mit der Mutter geskypt – sicher kennt jede und jeder von Ihnen solche Beispiele. Es stimmt mich optimistisch, dass die oft beschworene Kluft zwischen Jung und Alt vielleicht doch nicht so tief ist, wie viele glauben. Ich glaube, darauf können wir auch in Zukunft bauen!
Leider müssen wir in diesem dramatischen Coronaherbst selbstkritisch feststellen: Wir könnten sehr viel weiter sein. Das ist eine bittere, aber, wie ich finde, sehr notwendige Erkenntnis.
Dabei gab und gibt es doch durchaus Anlass für Hoffnung: In kürzester Zeit wurden Impfstoffe entwickelt! Ich weiß, für die meisten von Ihnen trifft das nicht zu, denn Sie haben sich impfen lassen. Trotzdem, ich will es noch einmal wiederholen: Unser Land müsste nicht so hart von der vierten Welle getroffen werden. Das Mittel, sich vor einem schweren, womöglich tödlichen Verlauf der Krankheit zu schützen, haben wir zur Hand. Aber zu wenige haben bisher davon Gebrauch gemacht.
Mein dringender Appell heute richtet sich deshalb noch einmal an alle, die diesen Schutz bislang nicht in Anspruch genommen haben: Lassen Sie sich impfen und das so schnell wie möglich! Es geht um Ihre Gesundheit und um die Gesundheit Ihrer Mitmenschen! Es geht um die Zukunft unseres Landes. Diese dringende Bitte richte ich auch an alle, die in der Pflege und im Gesundheitswesen arbeiten. Sie schützen damit nicht nur sich, sondern auch die besonders gefährdeten Menschen, die Ihnen anvertraut sind!
Und diejenigen, die bereits zweimal geimpft sind, bitte ich: Lassen Sie sich ein drittes Mal impfen! Gerade für ältere Menschen sind diese Boosterimpfungen, die Auffrischimpfungen, das Gebot der Stunde. Wenn sie so gut wie möglich geschützt sind, dann wird es uns auch gelingen, die Härten des letzten Winters zu vermeiden: Isolation, Einsamkeit, einsames Sterben. Dazu darf es nicht noch einmal kommen! Wir. Alle. Zusammen. Müssen das verhindern! Und wir können es verhindern! Und wenn alle Angebote, Bitten, Aufrufe, Appelle nicht helfen, dann sollte niemand die Politik anklagen, wenn sie schärfere Maßnahmen ergreift. Es kann nicht so bleiben, wie es ist!
Wir sind nicht am Ende der Pandemie. Trotzdem muss klar sein, dass wir Lehren ziehen müssen aus der Zeit der Pandemie. Lehren nicht nur für die Bewältigung neuer Krisen, sondern um unser Land zukunftsfähiger zu machen. Das heißt auch, dass wir die großen Zukunftsfragen nicht vollkommen aus den Augen verlieren dürfen, auch wenn die Bekämpfung der Pandemie jetzt wieder unsere ganze Kraft verlangt: Zukunftsaufgaben wie die Digitalisierung, die Bekämpfung des Klimawandels, die Bewahrung des Friedens in einer Welt wachsender Spannungen – und eben auch die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft.
Wie Menschen im Alter möglichst gut leben können; wie sie in Würde alt werden und teilhaben können, das ist eine dieser großen Zukunftsaufgaben. Viele Fragen stellen sich umso dringlicher, als jetzt die Generation der Babyboomer an der Schwelle zum Alter steht: Wie machen wir die Renten sicher? Wie sorgen wir dafür, dass ältere Menschen in einer digitalen Welt mithalten können? Wie schaffen wir es, dass sie möglichst selbstbestimmt leben können? Welche neuen Formen des Wohnungsbaus und des Zusammenlebens brauchen wir dafür? Wie kann es gelingen, dass Ältere auch auf dem Land eine gute ärztliche Versorgung haben, dass es in der Nähe Krankenhäuser, Geschäfte, eine Post gibt, dass sie ins Kino und ins Café gehen können? Und wie schaffen wir es, dass alle, die auf Hilfe oder Pflege angewiesen sind, diese Hilfe und Pflege auch bekommen?
Wir alle wissen, dass der weitaus größere Teil der Menschen in Deutschland, die sich nicht mehr allein versorgen können, zu Hause gepflegt wird. Das ist eine Form der Fürsorge, der Unterstützung, die wir gar nicht hoch genug schätzen können, und oft eben auch eine riesige Kraftanstrengung und Belastung für die, die das tagtäglich leisten – in aller Regel sind es Frauen. Viele von ihnen haben sich in der Zeit der Pandemie vollkommen allein gelassen gefühlt. Darüber können und dürfen wir nicht einfach achselzuckend hinweggehen.
Auch in den Krankenhäusern, Senioren- und Pflegeheimen haben die, die dort arbeiten, geradezu Übermenschliches geleistet – und dabei ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert. Die Probleme in der Pflege liegen seit Jahren offen. Brauchten wir wirklich erst eine Pandemie, um das zu begreifen? Es darf uns nicht gleichgültig sein, dass so viele Menschen, die in diesem wichtigen, verantwortungsvollen Beruf arbeiten, so erschöpft und so ausgebrannt sind, dass sie einfach nicht mehr können. Dabei brauchen wir gut ausgebildete Pflegekräfte gerade jetzt so dringend! Und wir werden sie in Zukunft noch dringender brauchen. Das Thema Pflege muss dringend angepackt werden von der neuen Bundesregierung, und es muss alles dafür getan werden, dass diese Berufe attraktiver werden und die Wertschätzung erhalten, die sie verdienen. Das ist eine der drängendsten, ganz konkreten Lehren aus der Zeit der Pandemie.
Die Pandemie hat uns gezeigt, was unser Staat kann – aber auch sehr deutlich, wo er eklatante Schwachstellen hat. Ich bin überzeugt, dass wir unseren Staat modernisieren müssen: Er muss schneller und beweglicher, digitaler und offener für Innovationen werden, und er muss besser vorsorgen.
Die wichtigste Lehre aus der Pandemie für mich aber ist die: Wir haben gelernt, wir mussten vielleicht neu lernen, wie verletzlich wir als Menschen sind und wie sehr wir aufeinander angewiesen sind, und dass es in einer solchen Krise nicht nur auf den Staat, sondern auf jeden Einzelnen ankommt. Wir können eine so tiefe Krise nur überwinden, wenn wir gemeinsam handeln. Und Sie haben recht: Wir. Alle. Zusammen!
Ich bin und bleibe überzeugt: Wenn wir zusammenstehen, Starke und Schwache, Junge und Alte, dann sind wir ein starkes, ein solidarisches Land! Und so soll dieses Deutschland sein und bleiben!
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Foto: "Bundesregierung/Steffen Kugler"