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Sie dürfen die Braut jetzt küssen

Trauer, Wut und Freude. Es gibt viele Momente bei denen einem die Tränen kommen. Aber warum ist der Clown ein weinender Clown und nicht nur ein nicht lachender? Ein nicht (vordergründig)-philosophischer Blick hinter den Tränenvorhang.

Ich habe derzeit einen Lieblingssong, der mich bei jedem Hören zu Tränen rührt: „LP - Lost on you“.

(https://www.youtube.com/watch?v=wDjeBNv6ip0) Es ist Zeit sich einmal zu fragen, warum verdammt schluchze ich bei jedem Scheiß wie ein Schlosshund?


Formal gesagt passiert ein beinahe sekündlich stattfindender Prozess: Über den Augäpfeln besitzen wir Tränendrüsen, die eine kochsalzgetränkte Flüssigkeit an die Augen abgeben, um den Glaskörper vor der Linse mit den Lidern zu reinigen. Die Flüssigkeit erreicht das Sehorgan über zwei Kanäle, in der unteren Braue nahe des Nasenflügels, die man mit bloßem Auge sogar erkennen kann, natürlich nur sofern man vor einem Spiegel steht und darüber hinaus mit den Fingern an der sensiblen Optik herumfingert und nicht darin.


Aber was hat nun Scheiben wischen mit Boden wischen nach einer romantischen Schnulze zu tun?


Nun, man stelle sich selbst als Baby vor. Der kleine Horst oder die süße Gabi liegt also dann vielleicht drei oder vier Tage alt in seiner oder ihrer nigelnagelneuen oder superchicken antiken Wiege und ihm oder ihr ist gerade langweilig. Das Mobilé im Blickfeld ist vielleicht bunt, aber da man in den ersten Tagen nur Schatten erkennen kann schnell obsolet. Da „Pretty Woman“ aus mindestens den gleichen Gründen auch keine realistische Option zur Unterhaltung darstellt, erinnert man sich des Menschen, der einen immer glücklich machte und wenn es nur mit Futter war: Mama.


Da diese aber zu besagtem Zeitpunkt nicht anwesend ist, möchte man mit jener in Kontakt treten. Da hingehen nun leider noch nicht möglich ist, bleibt nur: Schreien. Und zwar aus vollen Lungen.


Sie mögen jetzt sagen, das ist eine triviale Feststellung. Was stimmt, aber nicht unwichtig ist dabei, dass wir die süßen Knuddelaugen von Tante Luise oder Onkel Bernd beim Schreien fest zusammen pressen und darüber die Tränendrüsen mechanisch stimulieren, woraufhin Tränen kullern. Tatdaaaaa!


Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn mit diesem Schreien ist noch eine Gefahr verbunden. Wenn mich jetzt nicht Mama, sondern der versoffene Nachbar hört, rüber kommt und mich abschlachtet, bin ich tot. Das will ich nicht, davor habe ich sogar große Angst, weshalb das Kullern der Tränen im Gehirn mit der Amygdala, dem Emotionszentrum im Hirn verknüpft wird.


Das bedeutet, dass wir mit dem Schreien nach Mama das emotionale Weinen trainieren, denn dass die Tränen kullern, sobald wir emotional berührt werden, ist nicht genetisch bedingt (Epigenetic* ausgenommen).


Dass Frauen übrigens statistisch häufiger feuchte Augen haben, liegt unter anderem daran, dass sie als potentielle Mütter zu besonderer Empathie in der Lage sind. Über die biologisch zumindest theoretische Pflicht als Frau, die Spezies in eine neue Generation zu tragen, muss sie schnell in der Lage sein, in den Gesichtszügen ihres beinahe zu allem unfähigen Neugeborenen alle Wünsche von den Lippen abzulesen, wobei in diesem Fall auch der ganze Körper erlaubt wäre.


Sie bemerkt also schneller als Männer - zumindest in der Regel -, wie es dem Gegenüber geht, weil sie die gesehenen Emotionen aufnehmen, mit den ihrigen vergleichen und bewerten können muss, im Notfall sogar schnell. Es könnte ja um Leben und Tod des eigenen Nachwuchses gehen. Weshalb sie lieber einmal zu viel berührt ist als zu wenig. Überspitzt ausgedrückt. Sie wird folglich bei vielen scheinbar banalen Betrachtungen schneller seelisch berührt als die Vertreter des anderen Geschlechts. Ausnahmen bestätigen natürlich wieder die Regel.


Und das alles nur um meinen Nachwuchs zu beschützen HOHOHOHOHOHO: Kanns ma sehn, aber is ja auch ihrer.


Und wenn einem diese Geschichte bei einem flüchtigen Small-Talk mit der Assessment Managerin einfällt, als diese ihre Tränen beim Blick auf das Foto des Nachwuchs nicht verbergen kann, hat man im Anschluss vielleicht auch einmal wieder selbst einen guten Grund vor Freude die Quelle sprudeln zu lassen.


Sie dürfen die Braut jetzt küssen.


* Epigenetic ist übrigens, kurz gesagt ein Prozess, der unter anderem durch großen Stress oder ähnlichen Momenten das Ablesen von DNA auslösen oder stoppen kann (Methylierung).


Beispiel: Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in Nord-Europa eine große Hungersnot. Die Kinder der Menschen, die unter dieser Hungersnot litten (in den Niederlanden wissenschaftlich nachgewiesen), waren tendenziell kleinwüchsiger und hatten mitunter signifikante Essstörungen.


Foto/Bild: Pixabay.com