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Junge Nacht mit langer Schlange

Am vergangenen Freitag fand im LWL-Museum für Kunst und Kultur die „Junge Nacht“ statt. Die größte Attraktion des Abends waren dabei die Werke des englischen Romantik-Malers Joseph Mallord William Turner.

Schlange stehen, um Turner zu sehen. Die Ausstellung „Turner - Horror and Delight“ erweist sich auch bei der „Jungen Nacht“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur als Publikumsmagnet. Zwei Stunden Wartezeit hieß das für die meisten der Interessierten.


Ich war um 17:30 Uhr - eine halbe Stunde bevor es losgehen sollte - vor Ort, musste mich jedoch direkt einer Schlange aus über gut tausend Kunstinteressierten geschlagen geben. Die Schlange startete in der obersten Etage des LWL-Museums vor dem Einlass zur Ausstellung und ging tatsächlich über die langen Treppen herab bis weit nach draußen auf den Domplatz hinaus. Rekordverdächtig.



Die Warteschlange (hier mit Ausgangspunkt hinten in der Mitte des Bildes) erstreckte sich vom Erdgeschoss bis in die oberste Etage des LWL-Museums. Auch alle Menschen auf der Treppe stehen für Turner an. Foto: Tobias Hachmann


Selbst als sich um 21:30 Uhr die Warteschlange ungefähr auf die Hälfte verringert hatte, lohnte sich ein Anstellen für mich nicht mehr. So blieben mir Turners Ölgemälde und Aquarelle verwehrt – und damit auch deren experimentelle Zusammenspiele zwischen dunklem Schrecken und aufhellendem Licht, mit denen Turner vor allem auf Motiven von Landschaften, Meeren und Schiffen das „Horror and Delight“-Wechselspiel erzeugte. Das war schade.


Stattdessen machte ich meine Rundgänge durch die Dauerausstellungen des Museums zu den Werken aus dem elften Jahrhundert bis hin zur heutigen Zeit: Von Jesus-Gemälden und Heiligenstatuen aus der Renaissance und dem Barock über das aufgeklärte Biedermeier-Bürgertum bis hin zum Expressionismus des 20. Jahrhunderts und dem heutigen Realismus. 

Filmprojekt zu den Skulptur Projekten 2017


Eine Sonderausstellungen neben Turners „Horror and Delight“ war ein Filmprojekt des georgischen Künstlers Zauri Matikashvili. Der beleuchtete in zwei nebeneinander laufenden Videofilmen über die Münsteraner Skulpturen Projekte 2017 folgende Frage: „Wie fungiert Kunst als prägender Rahmen der Begegnung zwischen Menschen?“ Dafür richtete sich der Fokus auf studenten der Kunstgeschichte und anderer Fächer, die bei der Skulpturenausstellung 2017 als Kunst-Aufsichtspersonal arbeiteten. Zauri Matikashvili gab seinem Werk den Titel „Aufsichten 2017 / Besucher 2017“.
  

Um die Besucher der langen Nacht der Museen an diesem sozialen Experiment teilhaben zu lassen, wurden in der Aula des LWL Museums an zwei einander entgegengesetzten Leinwänden zwei Filme parallel abgespielt. Der erste zeigte Interviews, in denen die Studenten über die Begegnungen berichteten, die sie an den Skulpturen mit den Kunstbesuchern damals hatten. Dort wurden nur die Gesichter der Studenten aber nicht die Skulpturen nicht aufgenommen. Letztere wurden dahingegen im zweiten Film gezeigt – ohne Ton, aber dafür in Szenen, in denen die Studenten und Besucher auch gezielt mit den Skulpturen interagierten.




Eine der beiden Leinwände über der "Zuschauer-Tribüne". Foto: Tobias Hachmann


Dass sich der Sinn und Zweck dieser Konstellation beider Filme den etwa 50 Zuschauern auf den Tribünen nicht sofort erschließen konnte muss als geplant vorausgesetzt werden. Schließlich war später der „Aha-Effekt“ um so größer, als Matikashvili in der anschließenden Diskussion seine Gedanken zu den aktuellen Videoinstallationen „The Public Matters“ des Künstlerinnenkollektivs „Projekt 2077“ erläuterte. Davor sah man aber in den beiden Filme lediglich folgendes: 

Der erste Film war geprägt von relativ negativen Erfahrungen, die die Skulptur-Aufsichts-Studenten mit den Besuchern gemacht hatten. Viele berichteten in den Interviews, wie sich Ältere darüber beschwerten, dass man mit so einer Kunst doch nichts anfangen könne oder dass eine bestimmte Skulptur Geldverschwendung sei. Dies sei dauernd in polarisierende Themen umgeschwenkt, die nicht mehr allzu viel mit der eigentlichen Kunst zu tun hatten – zum Beispiel in kontroverse Diskussionen um die Flüchtlingspolitik, ja sogar in fremdenfeindliche Reaktionen gegenüber den ausländischen Studenten bei den Aufsichten.

Der zweite Film zeigte gleichzeitig parallel dazu nicht einfach nur die Skulpturen, sondern vor allem wie Studenten an letzteren die Interaktion zwischen Mensch, Kunstwerk und gesellschaftlichen Themenfeldern herstellten. Besonders im Fokus war dabei das Brunnen-Kunstwerk „Sketch for a fountain“ von Nicole Eisenmann. Hinter einer kopflosen Skulptur platzierten sich einzelne Studenten, die zum lustigen Fotoshooting ihren eigenen Kopf auf den Bronzehals setzen.

Bei einer anderen Figur war der Bronzekörper mit Symboliken wie zum Beispiel auch Hakenkreuzen beschmiert, wobei einer der Studenten demonstrativ mit Schwamm und Spülwasser das Ganze mühsam abschrubbte – natürlich kein wirklicher Vandalismus! Vielmehr wurden die Beschmierungen (wohl besonders vorsichtig) gezielt an den Projekten angebracht, um den Besuchern durch die „öffentliche Säuberungsaktion“ ein künstlerisches Sinnbild für die Konsequenzen aufkommender Spaltungen zu geben. Andere Szenen zeigten, wie sich die Studenten und Besucher neben dem Brunnen auf den Boden legten und die Körperhaltungen der Figuren nachahmten.



Filmkünstler Zauri Matikashvili (in der Mitte im blauen Pullover) stellt sich nach dem Film den Fragen eines Interviewers und denen des Publikums. Foto: Tobias Hachmann


Die Frage „Was will uns der Filmkünstler nun dadurch sagen?“ kreiste nach etwa 90 Minuten wohl in vielen Köpfen der Zuschauer auf der Tribüne. Gerade deswegen stand Zauri Matikashvili in einer anschließenden 30-minütigen Diskussion Rede und Antwort. Mir persönlich wurde vieles klarer als Matikashvili auf die folgende Zuschauerfrage antwortete:

„Warum wurde denn durch die beiden unterschiedlichen Filme so strikt zwischen den interviewten Studenten und den Skulpturen als Kunstwerk getrennt? Zu den Begegnungen, von denen da berichtet wurde, geben doch die Skulpturen erst den notwendigen Kontext. Hätte man also zu den Interviews nicht auch im selben Film die Werke als Orte des jeweiligen Diskurses einblenden sollen?“

Matikashvilis Antwort darauf: Er habe ganz gezielt darauf verzichtet, die Kunstwerke in den Vordergrund zu rücken. Ziel seines Projektes sei es gewesen, die „Kunstaufsicht“ als die viel zu oft ausgeblendete Hintergrundkraft zu betonen – als Pfleger, der sich zwar in der Besuchszeit zurückstellt, aber durch seine organisierende Arbeit wesentlich stärker daran beteiligt ist, dass Kunst das Denken zwischen Menschen gestalten und anstoßen kann. In diesem Sinne sei der Film mit den interviewten Studenten in den Vordergrund gerückt worden, während die Projekte nur beiläufig und eher zusammenhangslos in einem Stummfilm gezeigt wurden.


Für Matikashvili waren nicht die Skulpturen das eigentliche Objekt der Begierde, sondern die zwischenmenschlichen Begegnungen, die durch die Kunst angestoßen werden. An der Frage „Was passiert zwischen den Skulptur-Aufsehern und den Besuchern“ interessierte den Filmkünstler besonders der Umstand, dass die entstandenen Diskussionen in sehr vielen Fällen gar nichts mehr mit dem eigentlichen Kunstobjekt zu tun haben.

Genau aus diesem Schwerpunkt ergibt sich auch, warum weit mehr als die erste Hälfte des Interview-Films aus negativen Rückmeldungen bestand: Es sollte gezeigt werden, mit welch nahezu typischer Konsequenz viele Diskussionen sich allzu oft vom eigentlich Auslöser entfernen. Ja, so hat Matikashvilis Film-Experiment wirklich seinen tieferen Sinn.

Matikashvili hatte für die Interviews und Skulpturaufnahmen insgesamt 60 Tage lang gefilmt und rund 350 Stunden Filmmaterial zusammengetragen, von dem aber nur etwa 90 Minuten zusammengeschnitten wurde.


Impro-Theater mit Witz und Charme


Nach diesem Eintauchen in die Klischees des gesellschaftlichen Spaltungspotentials brauchte ich erst einmal etwas Auflockerung. Da kam mir nach dem Videoprojekt das Improvisationstheater der Studentengruppe „Peng!“ genau recht. Über 100 Zuschauer quetschten sich in einen hinteren Flur des LWL-Museums. Eng aber sehr gemütlich saß man wegen größtenteils fehlender Sitzgelegenheiten auf dem Boden zusammen und wurde direkt vom Peng!-Sprechrohr Christian in Stimmung gebracht: Er stellte klar, dass das Publikum immer Teil der Show ist. Seine Aufforderung an das Publikum: Spontan unsere Begriffe und Assoziationen in den Raum schreien, damit seine Leute auf der Fläche genauso spontan danach improvisieren und vor allem Stimmung machen können. Der Moderator forderte das Publikum auf: Anklatschen von leise bis laut und auch mal zwischendurch spontan ab und eine Laola-Welle.




Elegant in schwarz machten die fünf Darsteller ihre lustigen Posen. Der sechste von ihnen spielte dazu Keyboard (hinten rechts zu sehen). Foto: Tobias Hachmann


Was die insgesamt sechs Studenten von Peng! (drei Männer und drei Frauen) dann auf die Bühne legten war wirklich einfallsreiche Kunst mit viel Schauspiel und brillanter Situationskomik. Natürlich war auch die Turner-Ausstellung ein Thema: Für jene, die es wegen der kilometerlangen Schlange nicht in „Horror and Delight“ schafften, wurde zumindest im Improvisationstheater nachgestellt, wie Turner eine Frau in Öl malte: Einer der Studenten machte Malbewegungen auf dem Rücken seiner Kollegin. Es ergab sich daraus eher die Nachstellung, wie man eine Frau in Öl einschmiert. Dies ging dann in der Assoziationskette in „Olivenöl“ über, weshalb die Szenerie plötzlich in das gemeinsame Salat-Machen wechselte. 

Derlei lustige Impulswechsel wurden nicht nur durch das Publikum durch Zuruf, sondern auch durch das zufällige Ziehen von Zetteln bestimmt oder auch durch die Live-Musik, die von einem der sechs Studenten durchgehend am Keyboard im Blues-Stil von 50er-Jahre Filmmusik gespielt wurde. Letztere hatte schließlich im Sinne des Hauptausstellungs-Mottos „Horror und Delight“ ganz bewusst schnelle Brüche zwischen Melancholie, Schrecken und Freude – und auch daran mussten die jeweiligen fünf Schauspieler ihre Rollen und die Szenerie blitzschnell anpassen. 



Albern wirkte das Ganze in keinster Weise. Es hatte wirklich was von anspruchsvoller Kunst, wie schnell hier das Drehbuch durch crossmediale Spontanität immer wieder neu erfunden wurde: Die Schauspieler gaben ein freies Switchen zwischen verschiedenen Menschen- und Tierrollen und Orten zum Besten, das sie so nicht vorher einüben konnten. Umso bewundernswerter, dass sie trotzdem aus jeder neuen Konstellation eine lustige Sketch-Einlage improvisierten. Bravo, beste Unterhaltung!

Ab 22:00 Uhr kam das Motto der „Jungen Nacht“ erst richtig zum Tragen: Es startete Party mit DJ Effacé an den Turntables. Dazu gab es leckere Getränke. Bis drei Uhr Nachts ging dieser Ausklang.

Tobias Hachmann