Schlange stehen, um Turner zu sehen. Die Ausstellung „Turner - Horror and Delight“ erweist sich auch bei der „Jungen Nacht“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur als Publikumsmagnet. Zwei Stunden Wartezeit hieß das für die meisten der Interessierten.
Ich
war um 17:30 Uhr - eine halbe Stunde bevor es losgehen sollte - vor
Ort, musste mich jedoch direkt einer Schlange aus über gut tausend
Kunstinteressierten geschlagen geben. Die Schlange startete in der
obersten Etage des LWL-Museums vor dem Einlass zur Ausstellung und
ging tatsächlich über die langen Treppen herab bis weit nach
draußen auf den Domplatz hinaus. Rekordverdächtig.
Die Warteschlange (hier mit Ausgangspunkt hinten in der Mitte des Bildes) erstreckte sich vom Erdgeschoss bis in die oberste Etage des LWL-Museums. Auch alle Menschen auf der Treppe stehen für Turner an. Foto: Tobias Hachmann
Selbst als sich um 21:30 Uhr die Warteschlange ungefähr auf die Hälfte verringert hatte, lohnte sich ein Anstellen für mich nicht mehr. So blieben mir Turners Ölgemälde und Aquarelle verwehrt – und damit auch deren experimentelle Zusammenspiele zwischen dunklem Schrecken und aufhellendem Licht, mit denen Turner vor allem auf Motiven von Landschaften, Meeren und Schiffen das „Horror and Delight“-Wechselspiel erzeugte. Das war schade.
Stattdessen
machte ich meine Rundgänge durch die Dauerausstellungen des Museums
zu den Werken aus dem elften Jahrhundert bis hin zur heutigen Zeit:
Von Jesus-Gemälden und Heiligenstatuen aus der Renaissance und dem
Barock über das aufgeklärte Biedermeier-Bürgertum bis hin zum
Expressionismus des 20. Jahrhunderts und dem heutigen Realismus.
Filmprojekt zu den Skulptur Projekten 2017
Eine
Sonderausstellungen neben Turners „Horror and Delight“ war ein
Filmprojekt des georgischen Künstlers Zauri Matikashvili. Der
beleuchtete in zwei nebeneinander laufenden Videofilmen über die
Münsteraner Skulpturen Projekte 2017 folgende Frage: „Wie fungiert
Kunst als prägender Rahmen der Begegnung zwischen Menschen?“ Dafür richtete sich der Fokus auf studenten der Kunstgeschichte
und anderer Fächer, die bei der Skulpturenausstellung
2017 als Kunst-Aufsichtspersonal arbeiteten. Zauri Matikashvili gab
seinem Werk den Titel „Aufsichten 2017 / Besucher 2017“.
Um
die Besucher der langen Nacht der Museen an diesem sozialen
Experiment teilhaben zu lassen, wurden in der Aula des LWL Museums an
zwei einander entgegengesetzten Leinwänden zwei Filme parallel
abgespielt. Der erste zeigte Interviews, in denen die
Studenten über die Begegnungen berichteten, die sie an den
Skulpturen mit den Kunstbesuchern damals hatten. Dort wurden nur die
Gesichter der Studenten aber nicht die Skulpturen nicht aufgenommen.
Letztere wurden dahingegen im zweiten Film gezeigt – ohne Ton, aber
dafür in Szenen, in denen die Studenten und Besucher auch gezielt
mit den Skulpturen interagierten.
Eine der beiden Leinwände über der "Zuschauer-Tribüne". Foto: Tobias Hachmann
Dass
sich der Sinn und Zweck dieser Konstellation beider Filme den etwa 50
Zuschauern auf den Tribünen nicht sofort erschließen konnte muss
als geplant vorausgesetzt werden. Schließlich war später der
„Aha-Effekt“ um so größer, als Matikashvili in der
anschließenden Diskussion seine Gedanken zu den aktuellen
Videoinstallationen „The Public Matters“ des
Künstlerinnenkollektivs „Projekt 2077“ erläuterte. Davor sah
man aber in den beiden Filme lediglich folgendes:
Der erste
Film war geprägt von relativ negativen Erfahrungen, die die
Skulptur-Aufsichts-Studenten mit den Besuchern gemacht hatten. Viele
berichteten in den Interviews, wie sich Ältere darüber beschwerten,
dass man mit so einer Kunst doch nichts anfangen könne oder dass
eine bestimmte Skulptur Geldverschwendung sei. Dies sei dauernd in
polarisierende Themen umgeschwenkt, die nicht mehr allzu viel mit der
eigentlichen Kunst zu tun hatten – zum Beispiel in kontroverse
Diskussionen um die Flüchtlingspolitik, ja sogar in
fremdenfeindliche Reaktionen gegenüber den ausländischen Studenten
bei den Aufsichten.
Der
zweite Film zeigte gleichzeitig parallel dazu nicht einfach nur die
Skulpturen, sondern vor allem wie Studenten an letzteren die
Interaktion zwischen Mensch, Kunstwerk und gesellschaftlichen
Themenfeldern herstellten. Besonders im Fokus war dabei das
Brunnen-Kunstwerk „Sketch for a fountain“ von Nicole Eisenmann.
Hinter einer kopflosen Skulptur platzierten sich einzelne Studenten,
die zum lustigen Fotoshooting ihren eigenen Kopf auf den Bronzehals
setzen.
Bei einer anderen Figur war der Bronzekörper mit Symboliken wie zum Beispiel auch Hakenkreuzen beschmiert, wobei einer der Studenten demonstrativ mit Schwamm und Spülwasser das Ganze mühsam abschrubbte – natürlich kein wirklicher Vandalismus! Vielmehr wurden die Beschmierungen (wohl besonders vorsichtig) gezielt an den Projekten angebracht, um den Besuchern durch die „öffentliche Säuberungsaktion“ ein künstlerisches Sinnbild für die Konsequenzen aufkommender Spaltungen zu geben. Andere Szenen zeigten, wie sich die Studenten und Besucher neben dem Brunnen auf den Boden legten und die Körperhaltungen der Figuren nachahmten.
Filmkünstler Zauri Matikashvili (in der Mitte im blauen Pullover) stellt sich nach dem Film den Fragen eines Interviewers und denen des Publikums. Foto: Tobias Hachmann
Die
Frage „Was will uns der Filmkünstler nun dadurch sagen?“ kreiste
nach etwa 90 Minuten wohl in vielen Köpfen der Zuschauer auf der
Tribüne. Gerade deswegen stand Zauri Matikashvili in einer
anschließenden 30-minütigen Diskussion Rede und Antwort. Mir
persönlich wurde vieles klarer als Matikashvili auf die folgende
Zuschauerfrage antwortete:
„Warum wurde denn durch die
beiden unterschiedlichen Filme so strikt zwischen den interviewten
Studenten und den Skulpturen als Kunstwerk getrennt? Zu den
Begegnungen, von denen da berichtet wurde, geben doch die Skulpturen
erst den notwendigen Kontext. Hätte man also zu den Interviews nicht
auch im selben Film die Werke als Orte des jeweiligen Diskurses
einblenden sollen?“
Matikashvilis Antwort darauf: Er habe
ganz gezielt darauf verzichtet, die Kunstwerke in den Vordergrund zu
rücken. Ziel seines Projektes sei es gewesen, die „Kunstaufsicht“
als die viel zu oft ausgeblendete Hintergrundkraft zu betonen – als
Pfleger, der sich zwar in der Besuchszeit zurückstellt, aber durch
seine organisierende Arbeit wesentlich stärker daran beteiligt ist,
dass Kunst das Denken zwischen Menschen gestalten und anstoßen kann.
In diesem Sinne sei der Film mit den interviewten Studenten in den
Vordergrund gerückt worden, während die Projekte nur beiläufig und
eher zusammenhangslos in einem Stummfilm gezeigt wurden.
Für
Matikashvili waren nicht die Skulpturen das eigentliche Objekt der
Begierde, sondern die zwischenmenschlichen Begegnungen, die durch die
Kunst angestoßen werden. An der Frage „Was passiert zwischen den
Skulptur-Aufsehern und den Besuchern“ interessierte den
Filmkünstler besonders der Umstand, dass die entstandenen
Diskussionen in sehr vielen Fällen gar nichts mehr mit dem
eigentlichen Kunstobjekt zu tun haben.
Genau aus diesem
Schwerpunkt ergibt sich auch, warum weit mehr als die erste Hälfte
des Interview-Films aus negativen Rückmeldungen bestand: Es sollte
gezeigt werden, mit welch nahezu typischer Konsequenz viele
Diskussionen sich allzu oft vom eigentlich Auslöser entfernen. Ja,
so hat Matikashvilis Film-Experiment wirklich seinen tieferen Sinn.
Matikashvili hatte für die Interviews und Skulpturaufnahmen
insgesamt 60 Tage lang gefilmt und rund 350 Stunden Filmmaterial
zusammengetragen, von dem aber nur etwa 90 Minuten
zusammengeschnitten wurde.
Impro-Theater mit Witz und Charme
Nach
diesem Eintauchen in die Klischees des gesellschaftlichen
Spaltungspotentials brauchte ich erst einmal etwas Auflockerung. Da
kam mir nach dem Videoprojekt das Improvisationstheater der
Studentengruppe „Peng!“ genau recht. Über 100 Zuschauer
quetschten sich in einen hinteren Flur des LWL-Museums. Eng aber sehr
gemütlich saß man wegen größtenteils fehlender Sitzgelegenheiten
auf dem Boden zusammen und wurde direkt vom Peng!-Sprechrohr
Christian in Stimmung gebracht: Er stellte klar, dass das Publikum
immer Teil der Show ist. Seine Aufforderung an das Publikum: Spontan
unsere Begriffe und Assoziationen in den Raum schreien, damit seine
Leute auf der Fläche genauso spontan danach improvisieren und vor
allem Stimmung machen können. Der Moderator forderte das Publikum
auf: Anklatschen von leise bis laut und auch mal zwischendurch
spontan ab und eine Laola-Welle.
Elegant in schwarz machten die fünf Darsteller ihre lustigen Posen. Der sechste von ihnen spielte dazu Keyboard (hinten rechts zu sehen). Foto: Tobias Hachmann
Was
die insgesamt sechs Studenten von Peng! (drei Männer und drei
Frauen) dann auf die Bühne legten war wirklich einfallsreiche Kunst
mit viel Schauspiel und brillanter Situationskomik. Natürlich war
auch die Turner-Ausstellung ein Thema: Für jene, die es wegen der
kilometerlangen Schlange nicht in „Horror and Delight“ schafften,
wurde zumindest im Improvisationstheater nachgestellt, wie Turner
eine Frau in Öl malte: Einer der Studenten machte Malbewegungen
auf dem Rücken seiner Kollegin. Es ergab sich daraus eher die
Nachstellung, wie man eine Frau in Öl einschmiert. Dies ging dann in
der Assoziationskette in „Olivenöl“ über, weshalb die Szenerie
plötzlich in das gemeinsame Salat-Machen wechselte.
Derlei
lustige Impulswechsel wurden nicht nur durch das Publikum durch
Zuruf, sondern auch durch das zufällige Ziehen von Zetteln bestimmt
oder auch durch die Live-Musik, die von einem der sechs Studenten
durchgehend am Keyboard im Blues-Stil von 50er-Jahre Filmmusik
gespielt wurde. Letztere hatte schließlich im Sinne des
Hauptausstellungs-Mottos „Horror und Delight“ ganz bewusst
schnelle Brüche zwischen Melancholie, Schrecken und Freude – und
auch daran mussten die jeweiligen fünf Schauspieler ihre Rollen und
die Szenerie blitzschnell anpassen.
Albern
wirkte das Ganze in keinster Weise. Es hatte wirklich was von
anspruchsvoller Kunst, wie schnell hier das Drehbuch durch
crossmediale Spontanität immer wieder neu erfunden wurde: Die
Schauspieler gaben ein freies Switchen zwischen verschiedenen
Menschen- und Tierrollen und Orten zum Besten, das sie so nicht
vorher einüben konnten. Umso bewundernswerter, dass sie trotzdem aus
jeder neuen Konstellation eine lustige Sketch-Einlage improvisierten.
Bravo, beste Unterhaltung!
Ab 22:00 Uhr kam das Motto der
„Jungen Nacht“ erst richtig zum Tragen: Es startete Party mit DJ
Effacé an den Turntables. Dazu gab es leckere Getränke. Bis drei
Uhr Nachts ging dieser Ausklang.
Tobias Hachmann