Eine von Russland verkündete Waffenruhe für die syrische Provinz Idlib hat keine Woche gehalten: Bei heftigen Gefechten wurden innerhalb von 24 Stunden dutzende Kämpfer und Zivilisten getötet, Helfer warnten am Donnerstag vor einer neuen Massenflucht. "Noch einmal 650.000 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, könnten angesichts der Kämpfe gezwungen sein, ihre Häuser zu verlassen", erklärte die Nichtregierungsorganisationen International Rescue Committee (IRC).
Die neuen Kämpfe hätten in der Nacht zum Donnerstag südlich der Stadt Maaret al-Numan eingesetzt, berichtete die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich auf ein Netz von Informanten in dem Bürgerkriegsland stützt. Die Eroberung von Maaret al-Numan sei derzeit das wichtigste Ziel der Regierungstruppen in Idlib. Die Provinz ist die letzte Rebellen-Hochburg in Syrien, die Führung in Damaskus will sie mit aller Macht zurückerobern.
Bei den neuen Gefechten wurden nach Angaben der Beobachtungsstelle mehr als 50 Kämpfer getötet. Es habe Luftangriffe, Artilleriebeschuss und Kämpfe am Boden gegeben. Unter den Toten seien 26 Kämpfer von Dschihadisten- und Rebellengruppen sowie 29 Kämpfer der syrischen Armee und verbündeter Milizen.
Zuvor waren am Mittwoch in der Stadt Idlib mindestens 19 Zivilisten bei Luftangriffen der syrischen und russischen Armee getötet worden. AFP-Reporter berichteten am Donnerstag von anhaltendem Chaos in der Stadt.
Die syrischen Regierungstruppen werden von Russland unterstützt. Erst am vergangenen Donnerstag hatte Moskau verkündet, dass in Idlib eine neue Feuerpause in Kraft getreten sei. Diese gehe auf eine russisch-türkische Vereinbarung zurück - Ankara unterstützt in dem Konflikt die gegen die Regierung kämpfenden Rebellen.
Mit den nun wieder aufgeflammten Kämpfen ist die Waffenruhe bereits wieder nichtig. Die Europäische Union zeigte sich sehr besorgt. "Das ist ein enormer Anlass zur Sorge", sagte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel. "Wieder einmal" werde bei den Angriffen nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterschieden. "Wir sehen eine wachsende Zahl von zivilen Opfern und das Risiko einer großen Zahl von Flüchtlingen."
Idlib sowie Teile der angrenzenden Provinzen Hama, Aleppo und Latakia werden von dem früheren Al-Kaida-Ableger HTS und anderen islamistischen Milizen kontrolliert. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad ist entschlossen, die Region wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Angesichts des Vormarsches der Regierungstruppen sind in Idlib hunderttausende Menschen auf der Flucht.
Nach Angaben des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Ocha) flüchteten seit Anfang Dezember fast 350.000 Menschen aus den Kampfgebieten. Angesichts der neuen Kämpfe könnten 650.000 weitere Flüchtlinge hinzukommen, warnte das IRC.
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