In meiner Jugend wohnte ich im schmucken Einfamilienhäuschen
meiner Eltern am oberen Rand einer abschüssig fallenden Siedlung in Gievenbeck.
Zwischen Unnerste Meer und Deipenfohr mit Blick über die Häuser der Siedlung bis
zum Kinderbach. Schaute ich aus dem Fenster meines Dachzimmers zum Horizont,
endete dieser an der Oxford-Kaserne. Die Engländer - oder Tommys - wie sie
landläufig genannt wurden, gehörten zum Gievenbecker Orts- und Münsteraner
Stadtbild wie die Marmelade auf´s Brot. Keine
große Sache vor der Pubertät. Als ich ins Teenie-Alter kam, mehrten sich jedoch
die Warnungen der Älteren: „Lass Dich bloß nicht mit einem Engländer ein“. Eine Warnung, die einer Einladung gleich, das
Interesse an diesen scheinbar gefährlichen Jungs schürte. Ich lernte „meinen Engländer“ nicht in
Gievenbeck, sondern im Freibad kennen. Ein heißer Sommer, ein harmloser Flirt,
der nicht einmal zu einer Verabredung außerhalb der Coburg reichte. Nach diesem
Sommer habe ich ihn, dessen Namen ich vergessen habe, nie wieder gesehen. Es
hätte auch anders laufen können.
Es gab sie. Die Mädchen, die sich verliebten,
die sich einließen, die sich als Engländerflittchen beschimpfen lassen mussten,
die schwanger wurden, die ihrer Liebe nach England oder Schottland folgten und
oftmals allein und alleinerziehend zurückkehrten. Und es gab auch sie: Engländer, die blieben, die ihr Mädchen
geheiratet haben und die es nach Jahren geschafft haben, vom Feind, vom Befreier,
von der Besatzungsmacht zum endlich akzeptierten Mitbürger zu werden. Manche
von ihnen leben immer noch in der Siedlung, sprechen Masematte oder Platt mit
leicht englischem Einschlag, sind im Schützen- oder Fußballverein engagiert.
Gott sei Dank sind sie vorbei: die Zeiten der Schilder mit dem „Out of Bounds“-Aufdruck,
der den englischen Soldaten den Eintritt in viele Münsteraner Kneipen
verwehrte. Vielleicht sind sie aber nur vorbei, weil sie weg sind, die Befreier
und Besatzer. Ich vermisse die Tommys, die mir hinterhergepfiffen haben, denn auch
wenn ich arrogant an Ihnen vorbei stolzierte, hat es mir geschmeichelt. Ich fühlte
mich weder bedrängt noch sexuell belästigt. Es war ein Riesen-Spaß und immer
ein kleines Plus an Selbstvertrauen.
Wenn ich heute aus dem Fenster meines alten Zimmers schaue, endet der Horizont schon nach einigen Metern an einem der vielen Häuser, die in den Gärten der alten Siedlung für Kinder- und Kindeskinder errichtet wurden. Heute sind es andere „Fremde“ vor denen gewarnt wird und hinter den Mauern der Oxford-Kaserne schwitzen nicht mehr die Engländer beim Exerzieren, sondern die Arbeiter bei der Umgestaltung der Kaserne zum Quartier.
Auf 260.000 Quadratmetern entsteht ein urbanes, kulturell
durchmischtes Wohnquartier – energetisch saniert, zeitgemäß modernisiert jedoch
auch unter Berücksichtigung des Erhalts der teils denkmalgeschützten
Bausubstanz. Bezahlbar sollen sie sein, die unterschiedlich großen und verschieden
gestalteten Wohnungen. Nachhaltiges Leben in der Gemeinschaft, mit öffentlichen
Plätzen und gemeinsamen Höfen, einer eigenen Grundschule, Grünflächen zum
Entspannen und sporteln, Fuß-, Radwege und eine eigene Buslinie - so der Plan.
Ein erstes Richtfest für gleich mehrere Wohngebäude der Wohn Stadtbau konnte
jüngst bereits gefeiert werden. Die gesamte Quartiersentwicklung ist jedoch bis
2030 geplant, wobei einige Teilprojekte auf Ende 2023 terminiert sind.
Liest sich, als bliebe alles beim Alten. Auch die Engländer hatten eine Schule, einen Sportplatz, eine Turnhalle, eine Kirche und lebten zwangsläufig in einer großen Gemeinschaft. Und doch wird alles anders. Und das ist sicher gut so. Das Leben ist Veränderung - Fortschritt ist notwendig.
Dennoch: Mir wird sie fehlen die gute alte Oxford-Barrack, das Geheimnis, wie es wohl hinter der Mauer aussieht und ich frage mich, wie wohl mein Engländer - nennen wir ihn Jim – auf seine Zeit in Münster, in der Oxford Kaserne zurückblickt. Nostalgisch, wie ich? Erleichtert, dieses Kapitel im fremden Land hinter sich gelassen zu haben, wehmütig weil er deutsche Freunde – auch das gab es – zurückgelassen hat oder gar zornig, wegen der vielen Ausgrenzungen, die er sicher erleben musste. Wer sich für die Geschichte unserer englischen Mitbürger zwischen 1945 und 2013 interessiert, sollte sich im Stadtarchiv die aktuelle Ausstellung "Die Briten und Münster – Münster und die Briten" anschauen. Eine Besichtigung des Quartiers ist wegen der fortschreitenden Bauarbeiten zurzeit nicht möglich. Eine Wiederaufnahme der Rundgänge wird, laut Website https://oxfordquartier.de/ ab Anfang des kommenden Jahres angestrebt. Hier finden Sie auch vielfältige weiterführende Informationen zum Oxfortquartier.
Bei aller Nostalgie. Ich bin gespannt auf das was da entsteht. Und mal ehrlich: Mir pfeift schon lange kein Mann mehr hinterher – egal woher er kommt. Veränderung eben…
Fotos: Privatfotos (2019) Svenja Gasche