Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Gestern haben wir den Weihnachtsfestkreis liturgisch abgeschlossen, eine willkommene Zeit, um die Beziehungen in der Familie zu pflegen, von denen wir zuweilen abgelenkt und fern sind, weil wir - wie oft im Jahr - mit vielen anderen Verpflichtungen beschäftigt sind. Heute wollen wir den Geist von Weihnachten fortleben lassen, indem wir wie eine große Familie zusammenkommen, die sich begegnet und in Dialog tritt. Im Grunde ist dies der Zweck der Diplomatie: dazu beizutragen, die Unstimmigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zu überwinden, die Eintracht zu fördern und zu erleben, wie wir, wenn wir den Treibsand der Konflikte überwinden, den Sinn für die tiefe Einheit der Wirklichkeit wiederentdecken können.
Ich bin Ihnen daher besonders dankbar, dass Sie heute an unserem jährlichen „Familientreffen“ teilnehmen, das uns eine günstige Gelegenheit bietet, die Neujahrswünsche auszutauschen und gemeinsam auf die Licht- und Schattenseiten unserer Zeit zu blicken. Besonders dankbar bin ich dem Dekan, Seiner Exzellenz Herrn George Poulides, Botschafter von Zypern, für die freundlichen Worte, die er im Namen des gesamten diplomatischen Corps an mich gerichtet hat. Durch Sie möchte ich auch den Völkern, die Sie vertreten, meine Grüße und meine Zuneigung übermitteln.
Ihre Anwesenheit ist stets ein greifbares Zeichen für die Aufmerksamkeit, die Ihre Länder dem Heiligen Stuhl und seiner Rolle in der internationalen Gemeinschaft entgegenbringen. Viele von Ihnen sind für das heutige Ereignis aus anderen Hauptstädten angereist und reihen sich damit in die ansehnliche Zahl der in Rom residierenden Botschafter ein, zu denen bald auch der Botschafter der Schweizerischen Eidgenossenschaft hinzukommen wird.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter,
in diesen Tagen sehen wir, dass der Kampf gegen die Pandemie noch
erhebliche Anstrengungen auf Seiten aller erfordert und dass auch das
neue Jahr sich herausfordernd ankündigt. Der Coronavirus führt nach wie
vor zu sozialer Isolation und fordert Opfer. Unter den Todesopfern
möchte ich an dieser Stelle an den verstorbenen Apostolischen Nuntius
Erzbischof Aldo Giordano erinnern, der in der diplomatischen
Gemeinschaft sehr bekannt und geachtet war. Gleichzeitig haben wir
festgestellt, dass dort, wo eine wirksame Impfkampagne durchgeführt
wurde, das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs gesunken ist.
Daher ist es wichtig, dass die Bemühungen, die Bevölkerung so weit
wie möglich zu immunisieren, fortgesetzt werden können. Dies erfordert
ein vielseitiges Engagement auf persönlicher, politischer und
internationaler Ebene. Zunächst einmal auf der persönlichen Ebene. Wir
alle tragen Verantwortung für uns selbst und unsere eigene Gesundheit,
was sich auch darin übersetzt, dass wir auf die Gesundheit der uns
nahestehenden Menschen achten müssen. Die Sorge um die Gesundheit stellt
eine moralische Verpflichtung dar. Leider stellen wir immer mehr fest,
dass wir in einer Welt mit starken ideologischen Gegensätzen leben.
Oftmals lassen wir uns von der Ideologie des Augenblicks bestimmen, die
häufig auf nicht belegten Nachrichten oder unzulänglich dokumentierten
Fakten beruht. Jede ideologische Aussage durchtrennt die Bindung der
menschlichen Vernunft an die objektive Realität der Dinge. Gerade die
Pandemie hingegen erlegt uns eine Art von „Wirklichkeitspflege“ auf, und
das verlangt, dem Problem ins Auge zu schauen und die geeigneten
Lösungsmaßnahmen zu ergreifen. Impfstoffe sind keine magischen
Heilungswerkzeuge, aber sie stellen zusätzlich zu den Therapien, die
entwickelt werden müssen, die vernünftigste Lösung zur Vorbeugung der
Krankheit dar.
Ferner muss sich die Politik dafür einsetzen, das Wohl der Bevölkerung durch Entscheidungen zugunsten von Prävention und Immunisierung zu verfolgen, die auch die Bürger miteinbeziehen, so dass sie sie sich mitbeteiligt und mitverantwortlich fühlen können, und zwar durch eine transparente Kommunikation der Probleme und der geeigneten Mittel zu deren Lösung. Der Mangel an Entscheidungsbereitschaft und an klarer Kommunikation führt zu Verwirrung, schafft Misstrauen und untergräbt den sozialen Zusammenhalt, was wiederum neue Spannungen hervorruft. Es etabliert sich ein „sozialer Relativismus“, der der Harmonie und der Einheit schadet.
Schließlich muss sich die internationale Gemeinschaft als Ganze dafür einsetzen, dass die gesamte Weltbevölkerung in gleichem Maß Zugang zu medizinischer Grundbehandlung und zu den Impfstoffen hat. Leider ist schmerzlich festzustellen, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung für die Allgemeinheit in weiten Teilen der Welt noch immer eine Illusion bleibt. In einer für die gesamte Menschheit so ernsten Zeit bekräftige ich meinen Appell, dass die Regierungen und die betreffenden privaten Einrichtungen Verantwortungsbewusstsein zeigen und eine koordinierte Reaktion auf allen Ebenen (lokal, national, regional, global) entwickeln mögen, und zwar durch neue Modelle der Solidarität und Instrumente zur Stärkung der Kapazitäten der bedürftigsten Länder.
Insbesondere fordere ich die Staaten auf, die sich für die Bereitstellung eines internationalen Systems zur Vorsorge und Reaktion auf Pandemien unter der Ägide der Weltgesundheitsorganisation engagieren, eine Politik des selbstlosen Teilens als Schlüsselprinzip anzuwenden, um den Zugang zu Diagnoseinstrumenten, Impfstoffen und Medikamenten für alle zu gewährleisten. Ebenso ist es wünschenswert, dass Institutionen wie die Welthandelsorganisation und die Weltorganisation für geistiges Eigentum ihre rechtlichen Instrumente so anpassen, dass Monopolregelungen keine zusätzlichen Hindernisse für die Produktion und den organisierten und kohärenten Zugang zu den Behandlungen auf globaler Ebene darstellen.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter,
im vergangenen Jahr hatte ich, auch dank der Lockerung der im Jahr 2020 beschlossen Restriktionen, die Gelegenheit, zahlreiche Staats- und Regierungschefs sowie verschiedene zivile und religiöse Autoritäten zu empfangen.
Neben den zahlreichen Treffen möchte ich hier den Tag des vergangenen 1. Juli erwähnen, der der Reflexion und dem Gebet für den Libanon gewidmet war. Dem geschätzten libanesischen Volk, das sich im Klammergriff einer wirtschaftlichen und politischen Krise befindet und um eine Lösung ringt, möchte ich heute meine Nähe und mein Gebet erneuern. Zugleich erhoffe ich mir, dass die notwendigen Reformen und die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft dem Land helfen werden, in seiner Identität als Vorbild für friedliche Koexistenz und Geschwisterlichkeit zwischen den verschiedenen dort vertretenen Religionen festzubleiben.
Im Laufe des Jahres 2021 konnte ich auch die apostolischen Reisen wieder aufnehmen. Im März hatte ich die Freude, mich in den Irak zu begeben. Die Vorsehung hat es so gewollt, dass sich dies nach Jahren des Krieges und des Terrorismus als Zeichen der Hoffnung zutragen konnte. Das irakische Volk hat das Recht, die ihm eigene Würde wiederzuerlangen und in Frieden zu leben. Seine religiösen und kulturellen Wurzeln sind Tausende von Jahren alt: Mesopotamien ist die Wiege der Zivilisation; von dort rief Gott Abraham, um die Heilsgeschichte zu beginnen.
Im September bin ich dann nach Budapest zum Abschluss des Internationalen Eucharistischen Kongresses und anschließend in die Slowakei gereist. Es war eine Gelegenheit zur Begegnung mit den katholischen Gläubigen und den Gläubigen anderer christlicher Konfessionen wie auch zum Dialog mit den Juden. Ebenso hat mir die Reise nach Zypern und Griechenland, die mir in lebhafter Erinnerung steht, ermöglicht, die Verbindung zu den orthodoxen Brüdern zu vertiefen und die Geschwisterlichkeit zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen zu erleben.
Ein bewegender Teil dieser Reise fand auf der Insel Lesbos statt, wo ich die Großzügigkeit derjenigen feststellen konnte, die sich für die Aufnahme und Unterstützung von Migranten einsetzen; aber vor allem habe ich die Gesichter der vielen Kinder und Erwachsenen gesehen, die in den Aufnahmezentren beherbergt werden. Aus ihren Augen schimmern die Mühen der Reise, die Angst vor einer ungewissen Zukunft, der Schmerz um die zurückgelassenen Angehörigen und die Sehnsucht nach der Heimat, die sie verlassen mussten. Bei diesem Anblick können wir nicht gleichgültig bleiben und wir können uns nicht hinter Mauern und Stacheldraht verschanzen unter dem Vorwand der Verteidigung der Sicherheit oder einer Lebensweise.
Ich möchte daher all jenen Personen und Regierungen danken, die sich um die Aufnahme und den Schutz von Migranten bemühen und sich gleichzeitig um deren menschliche Förderung und Integration in ihren Gastländern kümmern. Ich bin mir der Schwierigkeiten bewusst, auf die einige Staaten treffen, wenn sie mit riesigen Menschenströmen konfrontiert werden. Man kann von niemandem verlangen, etwas zu tun, wozu er nicht in der Lage ist, aber es besteht ein eindeutiger Unterschied zwischen einer - wenn auch beschränkten - Aufnahme und einer völligen Abweisung.
Der Papst im Gespräch mit Migranten auf der griechischen Insel Lesbos EU braucht System zur Steuerung der Migrations- und Asylpolitik
Es ist notwendig, die Gleichgültigkeit zu überwinden und die Vorstellung zurückzuweisen, dass Migranten das Problem von anderen sind. Das Ergebnis eines solchen Ansatzes ist die völlige Entmenschlichung von Migranten, die in Hotspots zusammengeführt werden, wo sie zur leichten Beute von Kriminellen und Menschenhändlern werden oder verzweifelte Fluchtversuche unternehmen, die manchmal mit dem Tod enden. Leider muss auch festgestellt werden, dass die Migranten selbst oft zu einer politischen Erpressungswaffe gemacht werden, zu einer Art „Verhandlungsware“, was den Menschen ihre Würde nimmt.
An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an die italienischen Behörden erneuern, die es möglich gemacht haben, dass einige Personen aus Zypern und Griechenland mit mir nach Rom kommen konnten. Dies war eine einfache, aber bedeutende Geste. An das italienische Volk, das zu Beginn der Pandemie sehr gelitten hat, das aber auch ermutigende Anzeichen der Erholung gezeigt hat, richte ich meinen Wunsch, dass es immer jenen Geist der großzügigen und solidarischen Offenheit bewahre, der es auszeichnet.
Gleichzeitig halte ich es von grundlegender Wichtigkeit, dass die Europäische Union im Umgang mit der Migration ihren inneren Zusammenhalt findet, so wie sie ihn bei der Bewältigung der Folgen der Pandemie erlangt hat. Es ist in der Tat notwendig, ein kohärentes und umfassendes System zur Steuerung der Migrations- und Asylpolitik zu schaffen, damit die Verantwortung für die Aufnahme von Migranten, die Prüfung von Asylanträgen, die Umverteilung und die Integration derjenigen, die aufgenommen werden können, geteilt wird. Die Fähigkeit, zu verhandeln und gemeinsame Lösungen zu finden, gehört zu den Stärken der Europäischen Union und ist ein wertvolles Modell für die langfristige Bewältigung der anstehenden globalen Herausforderungen.
Die Migration berührt jedoch nicht nur Europa, auch wenn es durch die Migrationsströme aus Afrika und Asien besonders betroffen ist. In diesen Jahren haben wir unter anderem den Exodus der syrischen Flüchtlinge erlebt, zu denen in den letzten Monaten auch die aus Afghanistan geflohenen Menschen hinzugekommen sind. Nicht zu vergessen ist auch der massive Exodus, der den amerikanischen Kontinent betrifft und an die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten von Amerika drängt. Viele dieser Migranten sind Haitianer, die vor den Tragödien fliehen, die ihr Land in den letzten Jahren heimgesucht haben.
Die Migrationsfrage sowie die Pandemie und der Klimawandel zeigen deutlich, dass sich niemand selbst retten kann, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit alle global sind. Es ist daher besorgniserregend, dass angesichts einer immer engeren Verknüpfung der Probleme untereinander eine sich ausweitende Aufsplitterung der Lösungen zu verzeichnen ist. Nicht selten fehlt der Wille, Fenster des Dialogs und Breschen der Geschwisterlichkeit aufzutun, und dies führt zu weiteren Spannungen und Trennungen sowie zu einem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit und Instabilität. Es ist hingegen notwendig, den Sinn für unsere gemeinsame Identität als einzige Menschheitsfamilie zurückgewinnen. Die Alternative ist nur eine zunehmende Isolierung, die durch gegenseitige Abschottung und Verschlossenheit gekennzeichnet ist und den Multilateralismus, jenen diplomatischen Stil, der die internationalen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt hat, weiter gefährdet.
Die multilaterale Diplomatie befindet sich seit langem in einer Vertrauenskrise, die auf die schwindende Glaubwürdigkeit der gesellschaftlichen, staatlichen und zwischenstaatlichen Systeme zurückzuführen ist. Wichtige Resolutionen, Erklärungen und Beschlüsse werden oft ohne echte Verhandlungen, bei denen alle Länder ein Mitspracherecht haben, verabschiedet. Dieses Ungleichgewicht, das heute in dramatischer Weise zu Tage tritt, führt zu einer Entfremdung vieler Staaten von den internationalen Gremien und schwächt das multilaterale System insgesamt, so dass es bei der Bewältigung globaler Herausforderungen immer weniger wirksam ist.
„Man ist dabei, ein Einheitsdenken zu entwickeln, das dazu zwingt, die Geschichte zu leugnen“
Die mangelnde Effizienz vieler internationaler Organisationen ist auch der Tatsache geschuldet, dass die einzelnen Mitglieder unterschiedliche Vorstellungen von den Zielen haben, die sie sich setzen sollten. Nicht selten hat sich der Schwerpunkt des Interesses auf Themen verlagert, die von ihrer Art her spalten und nicht im eigentlichen Sinn mit dem Zweck der Organisation zu tun haben. Das führt zu Agenden, die zunehmend von einem Denken diktiert werden, das die natürlichen Grundlagen der Menschheit und die kulturellen Wurzeln, die die Identität vieler Völker ausmachen, leugnet.
Wie ich bereits bei anderen Gelegenheiten erklären konnte, glaube ich, dass dies eine Form der ideologischen Kolonisierung ist, die keinen Raum für freie Meinungsäußerung lässt und die heute immer mehr die Form der cancel culture annimmt, die in so viele öffentliche Bereiche und Einrichtungen eindringt. Im Namen des Schutzes der Diversität wird der Sinn für jede Art von Identität ausgelöscht, mit dem Risiko, dass die Positionen zum Schweigen gebracht werden, die eine respektvolle und ausgewogene Vorstellung von den verschiedenen Sensibilitäten vertreten. Man ist dabei, ein Einheitsdenken zu entwickeln, das dazu zwingt, die Geschichte zu leugnen, oder schlimmer noch, sie auf der Grundlage zeitgenössischer Kategorien umzuschreiben, während doch jede historische Situation gemäß der Hermeneutik ihrer Epoche interpretiert werden muss, nicht gemäß der Hermeneutik von heute.
Die multilaterale Diplomatie ist daher aufgerufen, wirklich inklusiv zu sein, indem sie die Vielfalt und die historischen Sensibilitäten, die die verschiedenen Völker unterscheiden, nicht auslöscht, sondern aufwertet. Auf diese Weise wird sie ihre Glaubwürdigkeit und Effizienz zurückgewinnen, um die vor ihr liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Diese erfordern, dass sich die Menschheit als eine große Familie zusammenfindet, die zwar von unterschiedlichen Standpunkten ausgeht, aber in der Lage sein muss, gemeinsame Lösungen zum Wohle aller zu finden. Dazu braucht es gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft zum Dialog, d.h. »anhören, sich auseinandersetzen, übereinkommen und miteinander vorangehen« . Außerdem ist »der Dialog der beste Weg zur Anerkennung dessen, was stets bejaht und respektiert werden muss und was über einen umstandsbedingten Konsens hinausgeht«. Wir dürfen nie vergessen, dass es »einige bleibende […] Werte« gibt.
Es ist nicht immer leicht, sie zu erkennen, aber sie zu akzeptieren, »verleiht einer Sozialethik Solidität und Stabilität. Auch wenn wir solche Grundwerte dank Dialog und Konsens erkannt und angenommen haben, sehen wir, dass sie über jeden Konsens hinausgehen«. Ich möchte insbesondere an das Recht auf Leben, von der Empfängnis bis zum natürlichen Ende, und an das Recht auf Religionsfreiheit erinnern.
In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren das kollektive Bewusstsein für die dringende Notwendigkeit gewachsen, sich um die Pflege unseres gemeinsamen Hauses zu kümmern, das unter einer kontinuierlichen und wahllosen Ausbeutung der Ressourcen leidet. In diesem Zusammenhang denke ich vor allem an die Philippinen, die in den vergangenen Wochen von einem verheerenden Taifun heimgesucht wurden, sowie an andere Länder im Pazifik, die von den negativen Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, wodurch das Leben ihrer Einwohner gefährdet wird, zumal deren Großteil von der Landwirtschaft, der Fischerei und den natürlichen Ressourcen abhängt.
Gerade diese Feststellung muss die internationale Gemeinschaft als Ganzes antreiben, gemeinsame Lösungen zu finden und in die Praxis umzusetzen. Niemand kann sich von diesen Bemühungen ausnehmen, da wir alle gleichermaßen betroffen und beteiligt sind. Auf der jüngsten COP26 in Glasgow wurden einige Schritte in die richtige Richtung unternommen, auch wenn sie im Vergleich zum Ausmaß des zu lösenden Problems eher klein waren. Der Weg zur Erreichung der Ziele des Übereinkommens von Paris ist komplex und scheint lang zu sein, wobei immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Es bleibt noch viel zu tun, und daher wird 2022 ein weiteres entscheidendes Jahr sein, um zu prüfen, wie viel und auf welche Weise das, was in Glasgow beschlossen wurde, im Hinblick auf die COP27 im kommenden November in Ägypten weiter gestärkt werden kann und sollte.
Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Dialog und Geschwisterlichkeit sind die beiden wesentlichen Säulen, um die Krisen der Gegenwart zu überwinden. Doch »trotz der vielfachen Anstrengungen, die auf einen konstruktiven Dialog zwischen den Nationen hinzielen, verstärkt sich der ohrenbetäubende Lärm der Kriege und Konflikte« und die gesamte internationale Gemeinschaft muss sich die Frage stellen, mit welcher Dringlichkeit Lösungen für die nicht enden wollenden Konflikte gefunden werden müssen, die zuweilen die Gestalt von richtiggehenden Stellvertreterkriegen (proxy wars) annehmen.
Ich denke dabei vor allem an Syrien, wo es noch keine klare Perspektive für den Wiederaufbau des Landes gibt. Noch heute trauert das syrische Volk um seine Toten, den Verlust von allem und hofft auf eine bessere Zukunft. Politische und verfassungsrechtliche Reformen sind für den Wiederaufbau des Landes erforderlich, aber es ist auch notwendig, dass die verhängten Sanktionen das tägliche Leben nicht direkt beeinträchtigen und einen Hoffnungsschimmer für die Bevölkerung bieten, die immer mehr von der Armut in die Enge getrieben wird.
Wir dürfen auch den Konflikt im Jemen nicht vergessen, eine menschliche Tragödie, die sich seit Jahren im Stillen fernab von den Scheinwerfern der Medien abspielt und weiterhin zahlreiche zivile Opfer, insbesondere Frauen und Kinder, fordert, wobei die internationale Gemeinschaft sich in einer gewissen Gleichgültigkeit befindet.
Im vergangenen Jahr sind im Friedensprozess zwischen Israel und Palästina keine Fortschritte erzielt worden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn diese beiden Völker wieder Vertrauen zueinander fassen und wieder direkt miteinander reden würden, damit sie in zwei Staaten Seite an Seite leben können, in Frieden und Sicherheit, ohne Hass und Groll, sondern geheilt durch gegenseitige Vergebung.
Die institutionellen Spannungen in Libyen sind ebenso besorgniserregend wie die Gewaltausbrüche des internationalen Terrorismus in der Sahelzone und die internen Konflikte im Sudan, im Südsudan und in Äthiopien, wo es gilt, »durch einen aufrichtigen Dialog, der die Bedürfnisse der Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt, den Weg zu Versöhnung und Frieden wieder zu finden« .
Die tiefgreifenden Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und die endemische Korruption sowie die verschiedenen Formen der Armut, die die Würde der Menschen verletzen, schüren auch auf dem amerikanischen Kontinent weiterhin soziale Konflikte, wo die immer stärkere Polarisierung nicht dazu beiträgt, die wirklichen und dringenden Probleme der Bürger, insbesondere der Ärmsten und Schwächsten, zu lösen.
Gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft zu einer ruhigen
Gegenüberstellung müssen alle beteiligten Parteien dazu antreiben, um
akzeptable und dauerhafte Lösungen in der Ukraine und im Südkaukasus zu
finden und den Ausbruch neuer Krisen auf dem Balkan, vor allem in
Bosnien und Herzegowina, zu vermeiden.
Dialog und Geschwisterlichkeit sind dringender denn je, um die Krise, die Myanmar seit fast einem Jahr erschüttert und in der die Straßen, die früher Orte der Begegnung waren, heute Schauplatz von Zusammenstößen sind, die auch vor Gebetsstätten nicht Halt machen, klug und wirksam zu bewältigen.
Natürlich werden alle Konflikte durch die Fülle der verfügbaren Waffen und die Skrupellosigkeit derer, die sie verbreiten, begünstigt. Manchmal herrscht die Illusion vor, dass Rüstung nur zur Abschreckung möglicher Aggressoren dient. Die Geschichte, und leider auch die Nachrichten, lehren uns, dass dies nicht der Fall ist. Wer Waffen besitzt, wird sie früher oder später auch benutzen, denn, wie der heilige Paul VI. sagte, »man kann nicht lieben mit Angriffswaffen in den Händen« . Denn »wenn wir der Logik der Waffen nachgeben und uns von der Praxis des Dialogs entfernen, vergessen wir tragischerweise, dass die Waffen, noch bevor sie Opfer fordern und Zerstörung bewirken, böse Szenarien hervorrufen können«. Diese Sorgen werden heute durch die Verfügbarkeit und den Einsatz autonomer Waffensysteme noch konkreter, die schreckliche und unvorhersehbare Folgen haben können und die der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft unterstellt werden sollten.
Unter den Waffen, die die Menschheit produziert hat, rufen Atomwaffen besondere Besorgnis hervor. Die 10. Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags, die wegen der Pandemie mehrfach verschoben wurde, findet derzeit in New York statt. Der Heilige Stuhl ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass Atomwaffen ein ungeeignetes Mittel sind, um im 21. Jahrhundert auf Sicherheitsbedrohungen zu antworten. Ihr Besitz ist höchst unmoralisch. Durch ihre Herstellung werden Ressourcen von den Aussichten auf eine ganzheitliche menschliche Entwicklung abgezogen, und ihre Verwendung hat nicht nur katastrophale Folgen für die Umwelt, sondern bedroht auch die Existenz der Menschheit selbst. In diesem Sinne hält es der Heilige Stuhl für äußerst wichtig, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen in Wien über das Iran-Atomabkommen (Joint Comprehensive Plan of Action) zu positiven Ergebnissen führt, um eine sicherere und geschwisterlichere Welt zu gewährleisten.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter!
In meiner Botschaft zum Weltfriedenstag, der am vergangenen 1. Januar
begangen wurde, habe ich versucht, die Elemente hervorzuheben, die ich
für die Förderung einer Kultur des Dialogs und der Geschwisterlichkeit
für wesentlich halte.
Einen besonderen Platz nimmt die Bildung ein,
durch die die neuen Generationen, Hoffnung und Zukunft der Welt, geformt
werden. Sie ist der primäre Vektor der ganzheitlichen menschlichen
Entwicklung, da sie den Menschen frei und verantwortlich macht. Der
Bildungsprozess ist langsam und mühsam, er kann manchmal zu Entmutigung
führen, aber er darf niemals aufgegeben werden. Er ist ein
hervorragender Ausdruck des Dialogs, denn es gibt keine echte Bildung,
die nicht dialogisch strukturiert ist. Bildung schafft dann Kultur und
baut Brücken der Begegnung zwischen den Völkern. Der Heilige Stuhl hat
den Stellenwert der Bildung unterstrichen, indem er an der Expo Dubai
2021 in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit einem Pavillon
teilgenommen hat, der vom Thema der Ausstellung „Connecting minds,
creating the future“ inspiriert war.
Die katholische Kirche hat die Rolle der Bildung für die geistige, sittliche und soziale Entwicklung der jungen Generationen stets anerkannt und wertgeschätzt. Umso erschütternder ist es für mich, festzustellen, dass in verschiedenen Bildungsstätten - Pfarreien und Schulen - Kindesmissbrauch begangen wurde, mit schwerwiegenden psychologischen und geistlichen Folgen für die Betroffenen. Es handelt sich um Verbrechen, die mit festen Willen aufgeklärt werden müssen, indem die einzelnen Fälle der Prüfung unterzogen werden, um die Verantwortlichkeiten zu ermitteln, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und zu verhindern, dass sich ähnliche Gräueltaten in Zukunft wiederholen.
Trotz der Schwere solcher Taten kann sich keine Gesellschaft jemals ihrer Verantwortung für die Erziehung entziehen. Dagegen ist es traurig, dass häufig in den Staatshaushalten nur wenige Mittel für die Bildung bereitgestellt werden. Bildung wird hauptsächlich als Kostenfaktor betrachtet, während es sich um die bestmögliche Investition handelt.
Die Pandemie hat vielen jungen Menschen den Zugang zu Bildungseinrichtungen verwehrt, was sich nachteilig auf ihre persönliche und soziale Entwicklung auswirkt. Viele haben mit Hilfe moderner technologischer Instrumente Zuflucht in virtuellen Realitäten gefunden, die sehr starke psychologische und emotionale Bindungen schaffen, mit der Folge, dass sie sich von anderen und der sie umgebenden Realität entfremden und sich die sozialen Beziehungen radikal verändern. Damit soll die Nützlichkeit der Technologie und ihrer Produkte freilich nicht in Abrede gestellt werden, die es ermöglichen, leichter und schneller in Kontakt zu treten. Ich möchte an die Dringlichkeit erinnern, darüber zu wachen, dass diese Instrumente nicht an die Stelle echter menschlicher Beziehungen auf persönlicher, familiärer, sozialer und internationaler Ebene treten. Wenn wir von klein auf lernen, uns zu isolieren, wird es in Zukunft umso schwieriger sein, Brücken der Geschwisterlichkeit und des Friedens zu bauen. In einem Universum, in dem es nur das „Ich“ gibt, kann es kaum Platz für ein „Wir“ geben.
Das zweite Element, auf das ich kurz eingehen möchte, ist die Arbeit, »ein unverzichtbarer Faktor für den Aufbau und die Erhaltung des Friedens. Sie ist Ausdruck der eigenen Person und der eigenen Fähigkeiten, aber auch Einsatz, Mühe, Zusammenarbeit mit anderen, denn man arbeitet immer mit oder für jemand anderen. In dieser eindeutig sozialen Perspektive ist die Arbeit der Ort, an dem wir lernen, unseren Beitrag zu einer lebenswerteren und schöneren Welt zu leisten«.
Wir haben gesehen, wie die Pandemie die Weltwirtschaft auf eine harte Probe gestellt hat, mit schwerwiegenden Auswirkungen auf Familien und Arbeitnehmer, die mehr noch als wirtschaftliche Schwierigkeiten unter Situationen psychische Probleme leiden. Sie hat die anhaltenden Ungleichheiten in verschiedenen sozioökonomischen Bereichen noch deutlicher aufgezeigt. Dazu gehören der Zugang zu sauberem Wasser, Nahrung, Bildung und medizinischer Versorgung. Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, nimmt merklich zu. Darüber hinaus hat die Gesundheitskrise viele Arbeitnehmer dazu veranlasst, den Arbeitsplatz zu wechseln, und sie manchmal in die Schattenwirtschaft gezwungen, so dass sie keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen vieler Länder haben.
In diesem Zusammenhang gewinnt das Bewusstsein für den Wert der Arbeit an Bedeutung, denn ohne Arbeit kann es keine wirtschaftliche Entwicklung geben, und es ist auch nicht vorstellbar, dass die modernen Technologien den durch die menschliche Arbeit geschaffenen Mehrwert ersetzen können. Die Arbeit ist auch eine Gelegenheit, die eigene Würde zu entdecken, anderen zu begegnen und als Mensch zu wachsen, und ein Vorzugsweg für jeden, aktiv am Gemeinwohl teilzuhaben und einen konkreten Beitrag zur Schaffung von Frieden zu leisten. Auch hier ist also eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene erforderlich, insbesondere in der kommenden Zeit mit den Herausforderungen, welche die angestrebte ökologische Umstellung mit sich bringt. Die kommenden Jahre werden eine chancenreiche Zeit sein, um neue Dienstleistungen und Unternehmen zu entwickeln, bestehende anzupassen, den Zugang zu menschenwürdiger Arbeit zu verbessern und auf die Achtung der Menschenrechte und ein angemessenes Lohn- und Sozialschutzniveau hinzuarbeiten.
Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Der Prophet Jeremia erinnert uns daran, dass Gott für uns »Gedanken des Heils und nicht des Unheils [hat]; denn [er will uns] eine Zukunft und eine Hoffnung geben« (29,11). Deshalb dürfen wir uns nicht scheuen, dem Frieden in unserem Leben Raum zu geben, indem wir den Dialog und die Geschwisterlichkeit untereinander pflegen. Der Friede ist ein „ansteckendes“ Gut: Er breitet sich von den Herzen derer aus, die sich danach sehnen und danach streben, ihn zu leben, und erreicht so die ganze Welt. Jedem von euch, euren Lieben und euren Völkern erneuere ich meine herzlichen Segenswünsche für frohes und friedvolles Jahr.
Danke!
(vatican news - sk)
10.Januar 2022