Ich hätte mir sehr gewünscht, Sie alle hier zu einem friedlichen Jahresbeginn begrüßen zu können. Das ist uns leider nicht vergönnt.
Wir alle sind hier versammelt als Repräsentanten unserer souveränen Staaten – und sind doch zugleich auch eine Gemeinschaft und nicht nur konkurrierende Einzelne. Ich sage das so ausdrücklich, weil ich tief besorgt bin über den Abgrund und die unabsehbaren Folgen einer Entwicklung, in der Staaten nichts mehr geben auf den Geist der Verständigung und der gemeinsamen Verantwortung. Was wir als Staaten miteinander vereinbaren und aushandeln, sind in aller Regel unvollkommene Kompromisse. Die Kritik daran ist so alt wie sie richtig ist. Aber unsere gemeinsame Erfahrung ist doch mehr! Jede Vereinbarung, die trägt, schafft Vertrauen und bietet Chancen für mehr.
Wo aber stehen wir, wenn Vereinbarungen nichts mehr gelten? Wenn jedes Vertrauen verlorengeht und keine Drohung groß und roh genug sein kann? Wenn Grenzen nicht mehr respektiert werden? Wenn die Glaubwürdigkeit und Autorität aller vermittelnden Institutionen der Völkergemeinschaft bewusst geschwächt wird? Das ist eine bange Frage, mit der wir alle zu Beginn dieses Jahres konfrontiert sind. Das kann und darf nicht der Weg Europas sein. Das kann nicht Deutschlands Weg sein.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, hat vergangenen Montag in einem dramatischen Appell zusammengefasst, was notwendig ist: "Stoppt die Eskalation. Übt maximale Zurückhaltung aus. Nehmt den Dialog wieder auf. Nehmt die internationale Kooperation wieder auf!"
Ich hoffe, dass das Erschrecken über die Eskalation der letzten Tage und ihre katastrophalen Folgen einen Impuls zum Umdenken gibt, zurück zum mühsamen, harten, aber so notwendigen Versuch, Vertrauen wieder aufzubauen. Dass jenseits von nationalem Ehrgeiz das Leben und Überleben von Menschen auf den Kontinenten wieder in den Mittelpunkt von Politik rückt.
2020 ist ein besonderes Jahr. Ein Jahr, in dem wir an das Kriegsende vor 75 Jahren erinnern werden. An den Moment der Befreiung der Welt von einem nationalsozialistischen Deutschland, das sich mit seiner menschenverachtenden Ideologie über seine Nachbarn erheben wollte, sich allem und jedem überlegen wähnte und sich darüber in Krieg, Vernichtung und massenhaftem Mord selbst verlor. Wie schwer Europa bis heute an dem Leid und der Zerstörung trägt, das Deutschland damals über den Kontinent brachte, und wie tief wir in der Schuld der Alliierten stehen, die nicht nur Europa, sondern auch Deutschland befreiten, daran haben wir im vergangenen Jahr in Wieluń und Warschau, im italienischen Fivizzano und zuletzt, vor wenigen Tagen erst, im belgischen Bastogne erinnert.
Wenn wir in wenigen Tagen an die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren erinnern werden, dann tun wir dies, um den Verlust von Millionen Menschenleben zu beklagen und den Schmerz zu ermessen, den dieser Verlust überall in Europa bedeutete. Ihrem Andenken, dem Andenken der Opfer aber werden wir nur gerecht werden, wenn wir die Aufgabe erkennen und annehmen, die uns die Erinnerung an sie für unsere Gegenwart aufgibt. Sie lautet, an die Zerstörung des Rechtsstaats und der Demokratie der Weimarer Republik zu erinnern, an die Gefahren nationalistischer Selbstüberhebung. In diesen Anfängen des deutschen Irrwegs erkennen wir unsere Verantwortung für die Gegenwart. Sie gibt uns auf, für unser freiheitliches und demokratisches Gemeinwesen zu werben und zu kämpfen, das Recht zu wahren und den Rechtsstaat zu schützen. Sie gibt uns auf, die Würde des Menschen auch heute und in Zukunft zum Maßstab politischen Handelns zu machen.
Das Streben nach einer Zukunft in einem geeinten, friedlichen Europa, in dem die Völker in Freiheit und Selbstbestimmung leben, ihre Geschicke in der Europäischen Union gemeinsam bestimmen und Konflikte untereinander friedlich lösen – das ist die Lehre, die wir aus zwei verheerenden Kriegen auf unserem Kontinent im letzten Jahrhundert gezogen haben.
Ich weiß, nicht jede Hoffnung hat sich erfüllt. Wir müssen auch Rückschläge hinnehmen. Einer der schmerzlichsten steht der Europäischen Union mit dem Austritt Großbritanniens in wenigen Tagen bevor. Die Idee der europäischen Einigung aber verliert damit nicht ihre Bedeutung und ihren Wert für unseren Kontinent. Sie hat sich durch sieben Jahrzehnte als zukunftsfähig erwiesen. Es wird an uns liegen, an allen Europäern, sie auch in der Gegenwart zu behaupten und immer wieder neu zu beleben. Deutschland will und wird dazu beitragen, ganz besonders in der Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr.
Wir sind uns der besonderen Verantwortung bewusst, die diese Aufgabe für unser Land bedeutet. In Europa gilt es, nach schwierigen Jahren die Chancen für einen neuen Aufbruch zu ergreifen. Der von der neuen Kommissionspräsidentin angestoßene Green New Deal bietet eine solche Chance. Europa hat die Mittel und die Möglichkeiten, die Innovationskraft und die wirtschaftliche Stärke, beim Kampf gegen den Klimawandel Vorreiter globaler Lösungen zu werden. Wahr ist aber auch, dass unser aller Zukunft auch davon abhängt, ob wir über Europa hinaus bei der Weltklimakonferenz in Glasgow wieder zu jenem Geist der Verständigung und der gemeinsamen Verantwortung finden, der das Pariser Klimaabkommen einmal ermöglicht hat.
Wir brauchen diesen Geist, um unsere Welt zu einem friedlicheren, besseren Ort zu machen, und das nicht nur in der Klimapolitik. Ich weiß, dass die Menschen das auch in der Nachbarschaft Europas und auf allen Kontinenten weltweit erwarten. Wenn ich auf das Jahr 2019 zurückblicke, dann sehe ich zu viele unbefriedete Konflikte, viel zu viel Leid und Gewalt. Aber ich habe bei meinen Reisen im vergangenen Jahr auch viel Ermutigung erlebt. Staaten, in denen Veränderung sichtbar ist, in denen Hunger und Korruption wirksamer bekämpft wird, in denen Politik wirklich etwas bewegt für die Menschen. Und ich sehe rund um die Welt viele mutige, selbstbewusste Menschen, die Würde, Respekt und Chancen für eine menschenwürdige Zukunft einfordern, die diese Zukunft selbst mitgestalten wollen. Das macht mir Hoffnung.
2020 ist ein besonderes Jahr. Ein Jahr der Erinnerung, aber ich wage vorauszusagen: auch ein Jahr ganz wichtiger Weichenstellungen für die Zukunft. Wenn es uns gelingt, beides zusammenzudenken und zu verbinden, wird es auch ein gutes Jahr. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten.
Herzlichen Dank.