Meine sehr verehrten Damen und Herren,
heute gedenken wir der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vor 77 Jahren. Wir blicken zurück auf das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit: auf die Shoah, die Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden, und auf das sinnlose Sterben von Millionen weiterer Menschen, die dem Terror der Nazis zum Opfer fielen – ermordet von deutschen Offizieren und Soldaten; ausgestoßen und verraten nicht selten von denjenigen, die vormals Freunde, Kolleginnen oder Nachbarn waren. Und es waren deutsche Beamte, die zuvor ihren Tod von langer Hand organisierten und beschlossen hatten.
Die Wannsee-Konferenz, die sich letzte Woche zum 80. Mal jährte, erinnert uns daran. Sie erinnert uns an einen kaltblütig geplanten und durchgeführten Völkermord; an die Gesetze und Paragrafen, die einer Todesstrafe für Millionen Männer, Frauen und Kinder gleichkamen; und an die Monstrosität dieses Bösen und die scheinbare Normalität, mit der es ins Werk gesetzt wurde.
Bis heute entzieht sich das jeglicher Logik und Vernunft. Und doch können wir daraus eine wichtige Lehre ziehen: Wir dürfen nie aufhören, einander als das zu sehen, was wir sind: Als Freunde, Kolleginnen und Nachbarn – als Mitmenschen, deren Schicksale auf diesem Planeten eng miteinander verbunden sind.
Das Nazi-Regime wollte Menschen auf Nummern reduzieren. Im Video haben wir gerade die Nummern gesehen, die Kitty Hart Moxon und ihrer Mutter in Auschwitz auf den Arm tätowiert wurden. Aber Kitty, ihre Mutter und die Millionen anderen Menschen, die verfolgt, gefoltert und umgebracht wurden, waren keine Nummern. Sie waren Menschen mit Hoffnungen und Träumen, genau wie wir. Sie waren Menschen mit demselben Recht auf Würde und Respekt. Und mit demselben Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit.
77 Jahre – das ist die Lebensspanne einer ganzen Generation. Bald werden seit dem Ende des Holocaust 80, 90, 100 Jahre vergangen sein. Bald werden wir ohne die persönlichen Erzählungen der letzten Überlebenden und Augenzeugen leben müssen. Gerade deshalb dürfen wir die Erinnerung an sie nicht verblassen lassen!
Das schulden wir den Ermordeten. Das schulden wir den Überlebenden, die die Last ihrer schmerzvollen Erinnerungen tapfer getragen haben. Aber wir schulden es am Ende auch uns selbst, wenn wir Menschlichkeit und Mitgefühl bewahren wollen. Denn dafür brauchen wir eine lebendige Erinnerung an die Vergangenheit. Nur so können wir sicherstellen, dass sich Geschichte nicht wiederholt.
Ich sage das mit großer Sorge. Denn Antisemitismus, Hassreden, Hetze gegen Israel und Gewalt gegen Menschen jüdischen Glaubens nehmen zu – in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern weltweit.
Gerade in der Coronapandemie haben auch Desinformation und Verschwörungstheorien aus dem Internet noch einmal zugenommen. Wir haben immer wieder gesehen, wie die Erinnerung an den Holocaust auf unseren Straßen bewusst verfälscht wurde - etwa bei Protesten gegen die Coronamaßnahmen. Ich denke etwa an die Demonstranten, die sich gelbe Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ angeheftet haben.
Umso deutlicher möchte ich heute sagen: Antisemitismus hat in unseren Ländern keinen Platz. Freie und offene Gesellschaften dürfen ihren Feinden nicht das Heft des Handelns überlassen. Wir müssen Antisemitismus, Diskriminierung, Rassismus und Extremismus bekämpfen – überall und in all ihren Formen.
Deutschland trägt in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung. Und mein Dank gilt Ihnen allen, die Sie uns helfen, dieser Verantwortung gerecht zu werden: Gemeinsam mit Israel haben wir auf eine UN Resolution gegen die Leugnung des Holocaust hingearbeitet. Letzte Woche wurde sie einstimmig verabschiedet. Und es ist mir eine große Ehre, dass wir dabei Seite an Seite mit unseren israelischen Freunden stehen durften. Mit vielen von Ihnen haben wir zudem im vergangenen Jahr zusammengearbeitet, um eine globale Task Force gegen Holocaustverfälschung ins Leben zu rufen. Und ich bin auch den Vereinten Nationen und der Unesco zutiefst dankbar, dass sie durch ihre Arbeit mithelfen, Antisemitismus, Rassismus und Extremismus weltweit zu bekämpfen.
Es ist ein Kampf gegen das Böse, das oft unter dem Deckmantel der Normalität daherkommt. Vor allem aber ist es ein Kampf für mehr Menschlichkeit, die uns verbindet.
Schönen Dank!
(Ins Deutsche übersetzt)
Bild: pixabay© Bundesregierung