Der Spaziergang hat seine Unschuld verloren. Jedenfalls gilt das für die letzten Monate. Hygieneregeln und Coronaauflagen werden bewusst umgangen, Arztpraxen und Impfbusse auf Marktplätzen attackiert, die Wohnhäuser von Politikern – insbesondere Kommunalpolitikern – belagert, Polizeikräfte gezielt verletzt. Fackelträger und Morddrohungen machen Schlagzeilen.
Hass und Gewalt gegen Menschen, die in unserem Land Verantwortung tragen, haben nicht erst in dieser Pandemie ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Natürlich erinnern wir uns in diesen Tagen wieder mit Sorge und Entsetzen an die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. An lebensgefährliche Messerattacken auf die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, und den damaligen Bürgermeister von Altena in Nordrhein-Westfalen, Andreas Hollstein. Wir wissen: Wir dürfen nicht verharmlosen. Die Gefahr ist real und sie ist konkret. Manche Betroffene reden lieber nicht über Bedrohungen, um den Tätern keine Bühne zu liefern. Ich glaube allerdings, wir müssen darüber reden, wenn wir etwas verändern wollen. Deshalb bin ich Ihnen, liebe Gäste, sehr dankbar, dass Sie Ihre Erfahrungen heute mit uns teilen.
Wegen Corona ist unsere Gesprächsrunde klein, die Fallzahl der Bedrohungen ist aber sehr groß. Mitarbeiter von Ordnungsämtern, Busfahrerinnen, Straßenbahnfahrer oder Verkäuferinnen und Verkäufer könnten uns erzählen, wie aggressiv Maskenverweigerer mitunter auftreten. Und deshalb sage ich noch einmal: Wir dürfen nicht verharmlosen. Es war am 18. September des vergangenen Jahres, als ein Maskenverweigerer in Idar-Oberstein einen zwanzigjährigen Tankstellenangestellten mit einem gezielten Kopfschuss ermordete. Schulleiter wissen, wie bedrohlich es wird, wenn Reichsbürger Briefe schreiben und versuchen, schon die Jüngeren vom Impfen abzuhalten. Oder Wissenschaftler, wie es sich anfühlt, nach der neuesten Veröffentlichung in Messengerdiensten wie Telegram oder auf Facebook mit brutaler Hetze überschwemmt zu werden.
Auch diejenigen, die beruflich über all das berichten, werden zunehmend angefeindet und sind gefährdet. Wenn mir Lokaljournalisten erzählen, dass sie nicht mehr ohne Security zu den Coronademonstrationen gehen können, weil in kleineren Orten jeder jeden kennt, dann muss uns das erschrecken. Ich zitiere einen Bürgermeister, aber es könnte ebenso eine Lehrerin, eine Ärztin oder ein Feuerwehrmann sein: „Wir sind zu Freiwild geworden. Wer tut etwas, um uns zu schützen?“ Ein solcher Hilferuf ist Anlass genug für unsere heutige Gesprächsrunde.
In diesen Wochen ist oft von Mehrheit und Minderheit die Rede. Die Zahlen dazu sind eindeutig: An jedem einzelnen Tag ist die bundesweite Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die sich impfen lassen, zigfach – ich betone: zigfach – größer als die Zahl derer, die dagegen protestieren oder provozierend gegen Coronaregeln verstoßen. Es gibt sie, die große Mehrheit der Vernünftigen in unserem Land, Menschen, die Verantwortung für andere zeigen! Millionen, das darf nicht vergessen werden, halten sich an die Auflagen. Aber – und darum sitzen wir heute hier – es gibt eben auch all das andere. Jede gewaltsame Eskalation ist eine zu viel. Denn es geht nicht nur um die Missachtung von Versammlungsrecht oder Hygieneregeln. Es geht um die Missachtung des sozialen Friedens in unserem Land. Hass und Gewalt zerstören das Fundament unseres Miteinanders.
Die Versammlungsfreiheit ist ganz ohne Zweifel ein hohes Gut unseres Grundgesetzes. Unsere Demokratie braucht die lebendige Debatte. Sie braucht den öffentlichen Raum, in dem auch Widerspruch geäußert werden darf. Dieses Gut zu beschneiden, muss, wie alle Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie, wohlbegründet sein. Doch die rote Linie ist eindeutig. Sie verläuft nicht da, wo jemand das Versammlungsrecht für Forderungen nutzt, die den Regierenden missfallen. Die rote Linie verläuft genau da, wo Gewalt ins Spiel kommt.
Das Gleiche gilt für die Meinungsfreiheit. Wir brauchen sie und wir schützen sie. Ich selbst habe hier in Schloss Bellevue nicht nur Befürworter, sondern auch Skeptiker und Gegner der Impfung zu Wort kommen lassen. Meinungsfreiheit – das weiß ich, das wissen wir – ist nie bequem. Das macht ihren Wert aus. Sie fordert uns heraus. Aber ein Gewaltaufruf, ein Mordaufruf gar, das ist nicht Wahrnehmung von Meinungsfreiheit. Wer sich gegen unser Recht stellt und sich mit selbsterklärten Staatsfeinden und verfassungsschutzbekannten Rechtsextremisten gemein macht, der kann sich nicht mehr glaubwürdig auf Demokratie und Freiheit berufen. Schon gar nicht auf die mutigen Ostdeutschen von 1989! Wie perfide, die Proteste von damals mit den heutigen gleichzusetzen. Und die Selbstinszenierung als Opfer mit gelbem Stern ist mehr als das. Sie ist eine Bagatellisierung des Antisemitismus und eine Verhöhnung der jüdischen Opfer des Holocaust.
Lieber Herr Oberbürgermeister Neumann, ich weiß, wie sehr die Demonstrationen gegen Coronaregeln Sie gerade in Thüringen beschäftigen. Und es muss uns allen Sorgen machen, wenn es Regionen oder Orte in unserem Land gibt, wo Menschen, die offen für die Demokratie eintreten, sich fragen, ob die Mehrheit eigentlich noch hinter ihnen steht. Eine solche Erosion dürfen wir nicht, dürfen wir niemals hinnehmen. Aber zugleich will ich in aller Klarheit sagen: Hass und Gewalt sind ein bundesweites Problem. Kassel, Köln, Altena oder Idar-Oberstein sind keine ostdeutschen Städte. Wir müssen bundesweit mit allen Mitteln reagieren – rechtsstaatlichen wie gesellschaftlichen.
Sie, Herr Oberbürgermeister Lewe, können als Präsident des Deutschen Städtetages und als Vorsitzender der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände sicher gleich das große Bild in den Blick nehmen. Sie sind Kommunalpolitiker mit Leidenschaft und viel Erfahrung. Sie können bewerten, was sich verändert hat in den letzten Jahren. Danke, dass Sie diese Bewertung mit uns teilen. Soweit zu den Kommunalpolitikern.
Eine ähnliche Kombination von Nahaufnahme und breiter Draufsicht findet sich bei unseren beiden Stimmen aus dem medizinischen Bereich. Sie, Frau Knaup, bringen als leitendende Medizinische Fachangestellte Ihre Eindrücke hierher nach Berlin. Sie arbeiten in einer ärztlichen Gemeinschaftspraxis in Paderborn. Und Sie, Herr Dr. Reinhardt, schildern neben den Erlebnissen aus Ihrer Hausarztpraxis in Bielefeld auch die Perspektive als Präsident der Bundesärztekammer.
Wir werden dann noch einmal die Blickrichtung wechseln. Mit Ihnen, Frau Weihe, haben wir die Leiterin einer Hundertschaft der Berliner Polizei in unserer Runde, stellvertretend für die tausenden deutschen Polizistinnen und Polizisten, die in den letzten zwei Jahren und zunehmend in den letzten Monaten durch die Pandemie und die Demonstrationen besonders herausgefordert sind. Was Sie an Coronawut auf den Straßen erleben, war auch ausschlaggebend für das besondere Engagement unseres sechsten Gastes, Pfarrer Christian Tiede aus Bautzen. Sie, Herr Tiede, haben im Dezember gemeinsam mit Anwohnerinnen und Anwohnern eine zivilgesellschaftliche, ausdrücklich überparteiliche Erklärung verfasst. „Bautzen gemeinsam“ heißt sie und hat inzwischen die kaum glaubliche Zahl von 47.000 Unterschriften erreicht: von Menschen aus Kultur, Bildung, Wirtschaft, örtlich wie überregional. Was für eine wirklich beeindruckende Zahl!
Ich will nicht nur Ihre Initiative hervorheben, sondern auch an die der vielen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus Sachsen und Thüringen erinnern, die sich gegen die Gewalt stemmen und an die stille Mehrheit appellieren, sich zu wehren. Alle vereint in dem Gedanken, unsere Gesellschaft eben nicht dem Hass zu überlassen, sondern den feindseligen Parolen etwas entgegenzusetzen.
Die Botschaft dieser Erklärungen, so will ich sie übersetzen, lautet: Nur Mehrheit zu sein, das reicht nicht! Sondern die Botschaft ist: Die Mehrheit muss auch politisch erkennbar werden. Sie darf sich nicht zurückziehen. Die Bürgerschaft darf nicht schweigen. Die stille Mitte – wie sie immer genannt wird –, sie muss sichtbarer, selbstbewusster und vielleicht auch ein bisschen lauter werden! Denn auch damit ermutigen, ja schützen wir Menschen, die angegriffen werden.
Ich freue mich auf das Gespräch mit Ihnen.
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