Über der Bühne schwebt eine große, runde Scheibe. Von der einen Seite ist es „Der himmlische Spiegel“, der dem neuen Tanzstück von Hans Henning Paars seinen Namen gab. Der Spiegel schwebt wie das Auge Gottes über dem Geschehen und beäugt die Welt unter sich mit einem unerbittlich, kalten Blick. Dem Zuschauer erlaubt dieser „himmlische Spiegel“ zugleich in einer Draufsicht die wirbelnde und stets quicklebendige Choreographie parallel zum Geschehen auf den Brettern aus einer anderen Perspektive zu verfolgen.
Die Scheibe ist vertikal schwenkbar. Auf der Rückseite befindet sich eine Projektionsfläche, auf der die Zeitläufte auf der Erde kommentiert werden. In einer Schlüsselszene zu sehen: Eine Handvoll frischer, saftiger, leuchtend roter Erdbeeren als Symbol für das pralle Leben und die süße Lust. Die Früchte aber verändern sich im Zeitraffer, sie schrumpfen, schrumpeln, verschimmeln und verfaulen als Zeichen der Vergänglichkeit. So ist der Lauf der Zeit im „Garten der Lüste“.
Die Faszination des Choreographen ist nur zu gut nachzuvollziehen: Wer das über 500 Jahre alte monumentale Triptychon „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch betrachtet, wird schier gefangen genommen von einem geradezu überwältigenden Bildkosmos. Lust und Laster, Himmel und Hölle, Traum und Albtraum, Anfang und Ende liegen ganz nah beieinander. Die Metaphorik ist allzu deutlich: Sie übermittelt plastisch die lustfeindliche Drohung der mittelalterliche Kirche. Diese Mahnung ist permanent präsent und soll die irdische Lebenslust in Grenzen halten: Denn die Menschen werden dereinst beim jüngsten Gericht vom lieben Gott für ihr zügelloses, selbstsüchtiges Treiben abgestraft werden. Ein Ende voller Schrecken und peinsame Foltern stehen als furchteinflößende Warnung auf der rechten Bildtafel des berühmten Gemäldes. Es wird böse enden.
Die Vielfalt der fantastischen und realistischen Figuren, der Ideenreichtum und die Lust am schaurigen Detail lassen einen nicht los. Wie auf einem Wimmelbild entdeckt man immer neue Einzelheiten, Bezüge und Verbindungen. Man wird als Betrachter überwältigt von der überbordenden Fantasie des Malers. Der Bogen der drei Bildtafeln spannt sich vom Ausgang der Schöpfung über die pure Lust am Leben und die sündige Zügellosigkeit bis zum Abstieg in die Hölle, wo das Laster gesühnt werden muss.
In
seiner Tanzproduktion „Der himmlische Spiegel“ bezieht sich Hans Henning Paar auf
dieses Gemälde. Seit Jahren war Paar von der Idee besessen, daraus ein eigenes
Stück zu machen und seinen Gedanken und Empfindungen einen tänzerischen
Ausdruck zu verleihen. „Ich bin von der Komplexität und Zeitlosigkeit des
Bildes überwältigt und empfinde es als extrem inspirierend, in diesen
fantastisch-metamorphen Bildkosmos einzutauchen“, schreibt Hans Henning Paar im
Begleitheft zur Aufführung im Theater Münster.
Aber erst nachdem der Mainzer Komponist Pierre Oser mit dem Auftragswerk seine musikalische Interpretation dieses Gemäldes vorgelegt hat, mochte Hans Henning Paar an die Arbeit gehen und mit seinem Ensemble in zahllosen Improvisationsrunden das Stück erarbeiten. Die Musik, ihr Klang, Takt und Rhythmus gaben gewissermaßen die Initialzündung.
Die Komposition entfaltet einen ungemein inspirierenden Klangteppich, der hin- und herschwebt zwischen einer bloßen Geräuschkulisse, dramatischen symphonischen Klängen und melodiösen Passagen. Auf der einen Seite krachen Schlagwerk, Blech und Becken als wenn Blitze eines urzeitlichen Gewitters direkt auf der Bühne einschlügen, auf der anderen Seite spinnen sanfte, eingängige Melodien einen meditativen Sound. Im Orchestergraben: Das Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg mit einer überzeugenden Leistung.
Der „Garten der Lüste“ entfaltet sich bei Hans Henning Paar zu einer beeindruckenden Choreographie, die vom 13-köpfigen Ensemble in geradezu atemberaubender Weise umgesetzt wird. Hans Henning Paar greift die Assoziation eines Wimmelbildes auf und lässt das komplette Ensemble in hautengen, an Reptilien erinnernden lehmfarbenen Ganzkörpertrikots auftreten. Sie Tänzerinnen und Tänzer schlüpfen in die Rollen von vorzeitlichen Kreaturen, sie spielen die ersten Menschen, Adam und Eva, in unschuldiger Eintracht bis zum Sündenfall. Sie verkörpern die Menschheit in ihrem lustvollen Treiben. Gott als Herr des Geschehens (Keelan Whitmore) verliert immer mehr an Einfluss. Die moderne Interpretation von Hans Henning Paar spürt den fragilen und ambivalenten Zuständen der menschlichen Psyche nach.
Was Paar seiner Kompagnie in diesen Szenen abverlangt, ist schier unglaublich. Die Tänzerinnen und Tänzer kriechen und winden, springen und hüpfen, staksen, schleichen und schreiten in fließenden Bewegungen lautlos wie Raubkatzen über die Bühne. Ihre Körper verbiegen und verrenken sich. Mit einer spektakulären Körperbeherrschung und atemberaubenden Präzision werden artistische Positionen eingenommen. Das ist um keinen Deut weniger als was die Artisten des chinesischen Staatszirkus in ihren Shows in der Manege zaubern. Dabei kommen bizarre, nie gesehen Viecher, Biester und Geschöpfe zum Vorschein. Man vergisst beinahe, dass dies Tänzerinnen und Tänzer sind, die da ihre Körper strapazieren und an ihre Grenzen bringen. Da winden sich Würmer und Raupen, krabbeln und krebsen Echsen und allerlei Mischwesen über die Bühne. Fantastisch!
Ausstatterin und Kostümbildnerin Anna Siegrot hat sich für den Anfang der Welt einen überzeugenden theatralischen Effekt einfallen lassen. Eine wabernden, wogenden Ursuppe, aus der sich das Leben entwickelt, wird auf einen transparenten Vorhang projiziert. Nachdem dieser aufgezogen ist, fällt die Projektion auf eine hauchzarte, durchscheinende Gaze, die über der Bühne wogt als sei sie ein bewegtes Meer. Darunter entsteigen die ersten bizarren Fabelwesen und skurrilen Kreaturen dem Wasser und Urschlamm.
„Der
himmlische Spiegel“ ist ein ganz großer Tanzabend wie man ihn lange nicht
gesehen hat. Hans Henning Paar hat fantastische Bilder für seine persönliche
Interpretation des monumentalen Gemäldes von Hieronymus Bosch gefunden. Die
Tänzerinnen und Tänzer gehen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und überzeugen
- jeder einzelne - mit einer ausdrucksstarken Performance, präzisen Bewegung und darüber hinaus
fügen sie sich zu einem eingespielten Ensemble.
Getragen wird die Produktion von einer sehr kargen und zugleich kreativen Ausstattung, einfallsreichen Kostümen und einem dramatisch aufspielenden Orchester. Da stimmt einfach alles zusammen. Man spürt, dass bei allen Kreativen der Funke übergesprungen ist. Allen voran die fantastischen Tänzerinnen und Tänzer: María Bayarri Pérez, Chiara Bonciani a.G., Fátima López García, Marie Gibaud a.G., Kana Mabuchi, Gian Marco Meier a.G., Matteo Mersi, Tarah Malaika Pfeiffer, Adrián Plá Cerdán, Raffaele Scicchitano, Charla Tuncdoruk, Leander Veizi und Keelan Whitmore.
Das Publikum brauchte nach dem „Ende mit Schrecken“ fast eine geschlagene Minute, um aus dem Alptraum der vorangegangenen Szenen wieder aufzutauchen und nach einem erleichterten Aufatmen in einen langanhaltenden, tosenden Applaus einzustimmen. Herausragend. (Jörg Bockow)
Fotos: Oliver Berg