Bulletin 21-2
"Sehr geehrte Damen und Herren Staats- und Regierungschefs,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste aus dem In- und Ausland,
sehr geehrter Herr Botschafter Ischinger,
sehr geehrter Herr Botschafter Heusgen,
meine Damen und Herren,
bevor ich einige Überlegungen mit Ihnen teile über den Zustand der Welt und darüber, wie wir mit dem geopolitischen Gezeitenwechsel umgehen, den die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) dieses Jahr auf die Agenda gesetzt hat, möchte ich zunächst auf einen anderen Gezeitenwechsel eingehen – nicht da draußen in der Welt, sondern hier, im Bayerischen Hof.
14 Jahre lang waren Sie, lieber Wolfgang Ischinger, nicht nur Gastgeber und Hausherr der Münchner Sicherkonferenz, sondern ihr Spiritus Rector, Ideengeber, Vordenker und Antreiber. Unsere Konferenz heute und morgen wird nun Ihre letzte in dieser Funktion sein. Und deshalb möchte ich Ihnen danken für das, was Sie in den letzten Jahren für die internationalen Beziehungen und ganz besonders für die transatlantische Freundschaft getan haben. Vielen Dank, lieber Herr Botschafter!
Verbinden möchte ich dies mit einem herzlichen Willkommen an Ihren Nachfolger. Wenn es jemanden gibt, der solch große Fußstapfen auszufüllen vermag, dann sind Sie es, lieber Christoph Heusgen, mit Ihrer umfassenden internationalen Erfahrung. Ich freue mich, dass wir auch in Ihrer neuen Funktion einen engen Draht zueinander haben werden. Alles Gute dafür!
Die Münchner Sicherheitskonferenz hat ein ganz besonderes Gespür fürs Timing, das ist bekannt. Dennoch wäre ich froh, wenn wir uns in etwas weniger aufgewühlten Zeiten treffen könnten. In Europa droht wieder ein Krieg. Und das Risiko ist alles andere als gebannt. Dahinter fallen in der öffentlichen Debatte selbst globale Herausforderungen wie die Pandemie und der Kampf gegen den Klimawandel zurück. Dabei bedürfen sie dringend einer Antwort.
In diesem Sinne, lieber Herr Ischinger, habe ich gestern auch Ihre Aufforderung an die demokratischen Gesellschaften verstanden, aus hausgemachter Ohnmacht aufzuwachen – Stichwort: „unlearning helplessness“. – Gerade auch angesichts der kritischen Sicherheitslage will ich eines vorab klarstellen: Natürlich gibt es den Chor all derer, die wahlweise den Abgesang anstimmen auf die liberalen Demokratien, auf „den Westen“ oder auf die von ihm geprägte internationale Ordnung. Und ich will gar nicht leugnen, dass die freien, demokratischen Gesellschaften Konkurrenz haben. Aber wir können selbstbewusst sagen, dass dieses Modell sich gegenüber Konkurrenz behauptet hat.
Die Gründe dafür haben sich heute nicht geändert. Demokratien sind langfristig anpassungs- und widerstandsfähiger, weil Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt, freie Wahlen, die Anerkennung von politischer Opposition, der Schutz von Minderheiten für gesellschaftlichen Ausgleich sorgen. Funktionierende Rechtsstaaten schaffen Vertrauen und Stabilität, und Länder sind stärker, wenn sie die Würde des Menschen achten, anstatt sie mit Füßen zu treten. Dies selbstbewusst festzuhalten, darin steckt nichts Spalterisches – weil ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde gerade kein exklusiv „westlicher“ Anspruch ist, sondern ein zutiefst menschlicher, universeller.
Dieser Gedanke universeller Werte liegt auch der internationalen Ordnung zugrunde, wie sie aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Sie hat für Ausgleich und wachsenden Wohlstand gesorgt, und zwar nicht nur in Nordamerika und Europa, sondern gerade auch in den Teilen der Welt, die angesichts ihrer zunehmenden ökonomischen und politischen Bedeutung nun stärker mitreden und gestalten wollen – und im Übrigen auch mitgestalten müssen. Der Mitgestaltungsanspruch ist zu begrüßen. Er ist ein Erfolg, weil starke, selbstbestimmte Partner keine Schwächung bedeuten, sondern die Möglichkeit, Probleme zu lösen, die auch die Größten und Stärksten nicht allein bewältigen können.
Allerdings setzt diese internationale Ordnung den Willen zur Kooperation zwingend voraus, auch gegenüber schwierigen Gesprächspartnern – mit klaren Überzeugungen, Pragmatismus, gesundem Selbstvertrauen und, ja, durchaus eigener Stärke. Getragen wird sie von einem zentralen Versprechen: Dass sich alle, auch die Starken, an die Spielregeln halten.
Damit bin ich bei dem, was wir in den letzten Monaten im Osten unseres Kontinents erleben. Um es klar zu sagen: Der Aufmarsch von weit über 100.000 russischen Soldaten rings um die Ukraine ist durch nichts gerechtfertigt. Russland hat die Frage einer möglichen Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zum Casus Belli erhoben. Das ist paradox, denn hierzu steht gar keine Entscheidung an. Wir Europäer und die transatlantische Gemeinschaft haben Russland davor gewarnt: Eine militärische Aggression gegen die Ukraine wäre ein schwerer Fehler. Wir wollen, dass es nicht dazu kommt!
Russland hat nun seine Antwort auf die Vorschläge der USA öffentlich gemacht, und ich sage: Ja, wir sind bereit zu verhandeln. Selbstverständlich werden wir dabei klar unterscheiden zwischen unhaltbaren Forderungen einerseits und legitimen Sicherheitsinteressen andererseits. Diese Differenzierung müssen wir uns zutrauen, bei allem, was da auf dem Spiel steht.
Die in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verbrieften Grundprinzipien stehen für uns dabei nicht zur Disposition. Russland hat ihnen zugestimmt, und zu ihnen gehört auch das Recht auf freie Bündniswahl.
Gleichzeitig gibt es Sicherheitsfragen, die für beide Seiten wichtig sind – allen voran Transparenz bei Waffensystemen und Übungen, Mechanismen zur Risikovermeidung oder neue Ansätze zur Rüstungskontrolle.
Bei meinem Treffen mit Präsident Putin am Dienstag habe ich deutlich gemacht: Jede weitere Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine wird hohe Kosten haben für Russland – politisch, ökonomisch und geostrategisch. Zugleich habe ich betont, dass Diplomatie an uns nicht scheitern wird.
So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein – das ist der Anspruch. Dafür nutzen wir alle Gesprächskanäle: den Nato-Russland-Rat, der sich nach Jahren endlich wieder getroffen hat; die OSZE, in der mit allen Europäern, Russen und Amerikanern über Konfliktvermeidung gesprochen werden kann – der polnische Vorsitz hat dazu Vorschläge vorgelegt. Es gibt den bilateralen Kanal zwischen Russland und den USA. Außerdem nutzen wir das Normandie-Format. Es bleibt für die Lösung des Ukraine-Konflikts entscheidend
Bei meinen Besuchen in Kiew und Moskau habe ich darauf gedrungen, die Vereinbarungen von Minsk umzusetzen. Ich bin vor allem Präsident Selensky sehr dankbar für die Zusage, nun die nötigen Gesetze voranzubringen und in der Trilateralen Kontaktgruppe zu diskutieren.
Natürlich mache ich mir keine Illusionen: Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten. Aber wir werden die Krisendynamik nur durchbrechen, wenn wir verhandeln. Es geht schließlich um nichts Geringeres als den Frieden in Europa. Mit alldem muss auch eine Neuverortung Europas und der transatlantischen Allianz in einer veränderten Welt einhergehen. Den Strategieprozessen innerhalb der Europäischen Union und der Nato kommt daher eine ganz besondere Bedeutung zu. Vier grundsätzlichere Überlegungen möchte ich dazu gerne beisteuern.
Erstens: Wir werden unser Verständnis von Sicherheit breiter fassen. Die MSC war da immer Vorreiterin, indem sie sich inzwischen ganz selbstverständlich auch mit den Risiken beschäftigt, die vom Klimawandel, globalen Gesundheitskrisen oder dem Missbrauch des Cyberspace oder neuer Technologien ausgehen.
Dieses breite Verständnis setzt aber zwingend voraus, dass sich die EU und die Nato gegenseitig ergänzen, verstärken und auf neue Risiken einstellen. Schließlich bleibt ein Cyberangriff ein Cyberangriff – egal ob er aus Sankt Petersburg, Teheran oder Pjöngjang gesteuert wird. Ich denke, wir sind uns einig: Solch neue Bedrohungen in den Blick zu nehmen, ist allerdings etwas anderes, als der Anspruch einer global operierenden Nato.
Gerade die Entwicklungen der vergangenen Monate zeigen uns doch, wie unverändert nötig die Konzentration auf das Thema „Bündnisverteidigung“ im nordatlantischen Raum ist. Die Fähigkeiten, die dafür erforderlich sind, müssen wir aufbringen. Und ja, das gilt auch für Deutschland. Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind für ihre gefährlichen Aufgaben – das muss ein Land unserer Größe, das ganz besondere Verantwortung trägt in Europa, sich leisten können.
Das schulden wir auch unseren Verbündeten in der Nato. Ihnen sage ich: Deutschland steht zur Garantie des Artikels 5 – ohne Wenn und Aber. Wir üben auch praktische Solidarität, aktuell etwa durch eine größere Präsenz der Bundeswehr im Baltikum und beim Air Policing der Nato im Südosten der Allianz.
Das bringt mich zu dem zweiten Punkt: Die Neuverortung unserer Bündnisse und Allianzen geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern in Wechselwirkung zu anderen Akteuren und deren Ambitionen. Ausgangspunkt dafür ist eine nüchterne Analyse der Welt um uns herum. Derzeit leben fast acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten, Tendenz steigend. Nur ein Bruchteil – knapp 450 beziehungsweise 330 Millionen – lebt in der Europäischen Union oder den USA.
Ähnliche Verschiebungen gibt es, wenn man sich unsere Anteile an der Weltwirtschaft über die vergangenen Jahrzehnte anschaut. Die Tortenstücke schrumpfen. Für mich bedeutet das: Die Welt des 21. Jahrhunderts wird weder uni- noch bipolar sein. Sie wird unterschiedliche Machtzentren haben. Diese Entwicklung ist per se nichts Schlimmes, weil der Wohlstand zunimmt oder – um im Bild zu bleiben – weil die Torte insgesamt größer wird.
Dass heute über eine Milliarde Menschen weniger als vor 30 Jahren in extremer Armut leben, ist ein Erfolg der gesamten internationalen Gemeinschaft, für den wir gerade jetzt, in der Pandemie, hart arbeiten müssen. Vom Entstehen der Mittelklasse in Ländern wie China, Indonesien oder Indien profitieren auch Beschäftigte bei uns. Gerade in Asien reden wir ohnehin nicht über einen „Aufstieg“, sondern allenfalls über einen „Wiederaufstieg“. Großmacht zu sein – das ist aus der Perspektive von Peking oder Delhi keine historische Ausnahme, sondern die Rückkehr zum Status quo ante. Daran ist nichts falsch, im Gegenteil.
Problematisch wird es, wo der Bedeutungszuwachs in die Forderung nach Gefolgschaft und Einflusszonen umgemünzt wird, wenn universelle Regeln, die man gestern mitgetragen hat, heute zur Seite gewischt werden. Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen Landes sein. So differenziert der Machtanspruch gerade Chinas zu sehen ist, so differenziert wird auch unsere Haltung dazu sein, indem wir Kooperation suchen, wo es im beiderseitigen Interesse liegt – beim Kampf gegen Klimawandel und Armut oder, so anspruchsvoll das auch wird, bei der Rüstungskontrolle –, indem wir unsere eigenen Fähigkeiten stärken und indem wir dort klar gegenhalten, wo der Erhalt der multilateralen Ordnung bedroht ist oder Menschenrechte mit Füßen getreten werden. In allen drei Bereichen aber gilt: Je enger sich Europa und Nordamerika abstimmen, umso erfolgreicher werden wir sein.
Damit bin ich bei meiner dritten Bemerkung. Wir brauchen Klarheit über das Ambitionsniveau der Europäischen Union in Fragen der eigenen Sicherheit und darüber hinaus – Stichwort: europäische Souveränität.
Ich habe gerade die geopolitischen Machtverschiebungen beschrieben, mit denen wir es zu tun haben. Mit Blick auf die USA ist klar: Sie werden Gravitationszentrum bleiben, auch in einer multipolaren Welt. Daran besteht kein Zweifel. Meine Gespräche in Washington letzte Woche haben mich darin bestärkt.
Für Europa aber sieht die Sache anders aus. Wir Europäer werden unsere Handlungsfähigkeit, unsere Entscheidungsautonomie nur bewahren, wenn wir unseren Willen und unsere Fähigkeiten in der Europäischen Union bündeln. Und übrigens: Wenn ich von der Europäischen Union spreche, dann denke ich die Länder des Westlichen Balkans mit. Es reicht nicht, die Erweiterungsperspektive für diese Region als strategisches Ziel zu benennen. Wir müssen sie aktiv vorantreiben. Ich freue mich, dass viele Kollegen aus der Region hier sind, denn diese Aufgabe ist eine gemeinsame.
Die Europäische Union ist unser Handlungsrahmen, unsere Chance. „Macht unter Mächten“ zu bleiben, darum geht es, wenn wir von „europäischer Souveränität“ reden. Drei Dinge braucht es auf dem Weg dorthin: erstens den Willen, als „Macht unter Mächten“ zu handeln, zweitens gemeinsame strategische Ziele und drittens die Fähigkeiten, diese Ziele zu erreichen. An allem arbeiten wir.
Damit ist auch das Ambitionsniveau abgesteckt, das der neue „Strategische Kompass“ der EU erreichen muss. Dazu zählt europäisches Engagement zur Terrorismusbekämpfung, das von ziviler Stabilisierung bis hin zu militärischer Ausbildung über Ausrüstung reicht. Dazu zählen neue Impulse für effektivere Rüstungskontrolle, die hier in Europa Transparenz und Vertrauen schaffen. Gespräche mit Russland, sollten sie denn zustande kommen, können ein Anfang sein. Schließlich zählt dazu auch eine aktive europäische Diplomatie, wie wir sie zum Beispiel gegenüber dem Iran praktizieren.
Apropos Iran. Wir sind in den Verhandlungen in Wien in den letzten zehn Monaten weit gekommen. Alle Elemente für einen Abschluss der Verhandlungen liegen auf dem Tisch. Wenn der Iran weiter allerdings Brennmaterial anreichert und gleichzeitig das Monitoring der Internationalen Atomenergie-Organisation aussetzt, dann ist das nicht akzeptabel. Eine iranische atomare Bewaffnung ist für uns nicht hinnehmbar, auch weil die Sicherheit Israels nicht verhandelbar ist. Deshalb haben wir wiederholt darauf hingewiesen, dass nun bald der Punkt erreicht sein wird, an dem wir entscheiden müssen, ob eine Rückkehr zum Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan angemessen ist.
Wir haben jetzt die Chance, zu einer Vereinbarung zu kommen, die ermöglicht, dass Sanktionen aufgehoben werden können. Zugleich gilt: Wenn uns das nicht sehr rasch gelingt, drohen die Verhandlungen zu scheitern. Die iranische Führung hat jetzt eine Wahl. Jetzt ist der Moment der Wahrheit. Ich finde, dass die von der EU geführten Atomverhandlungen ein gutes Beispiel dafür sind, was Europa im Zusammenspiel mit seinen Partnern leisten kann.
Damit bin ich bei meinem vierten und letzten Punkt, der zugleich eine Bitte und ein Wunsch ist: Let us stick together! Lassen Sie uns zusammenbleiben, als Freunde und Alliierte.
Zusammenbleiben – für unsere Freunde und Partner bedeutet das auch, die Europäische Union als Einheit zu akzeptieren, sie anzuerkennen als internationalen Akteur und ihre weitere Integration zu unterstützen. Wir haben schon genug damit zu tun, dass unsere Gegner versuchen, uns zu spalten. Deshalb bin ich Ihnen, liebe Kamala Harris, den vielen Freundinnen und Freunden aus dem amerikanischen Kongress und der amerikanischen Regierung sehr dankbar dafür, dass sie Tag für Tag das Versprechen einlösen, das Präsident Biden letztes Jahr hier in München gegeben hat – „(to) support the goal of a Europe whole and free and at peace“. Diese geeinte, freie, friedliche – und ich füge hinzu: souveräne – Europäische Union ist gegen niemanden gerichtet. Erst recht ist sie kein Risiko für die transatlantische Zusammenarbeit, im Gegenteil!
Letztlich wird nur ein handlungsfähiges Europa ein attraktiver Partner für die Vereinigten Staaten bleiben: als eine starke europäische Säule im transatlantischen Bündnis, als eine unüberhörbare Stimme für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit und als Amerikas engster Freund und Partner.
Jetzt freue ich mich auf Ihre Fragen und auf unsere Diskussion. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!"
Die Bundesregierung