Danke, dass wir das heute hier gemeinsam deutlich machen.
Die
Bilder aus der Ukraine sind kaum zu ertragen. Tausende fliehen.
Wahrscheinlich hat jeder hier im Saal eine Nachricht bekommen von
Freunden, Bekannten, von Kolleginnen und Kollegen, mit denen man - so
wie ich letzte Woche - noch gemeinsam in Kiew Mittag gegessen hat und
die jetzt sagen: Bitte, rettet uns! -
Eltern mit kleinen Kindern
verbringen in U-Bahn-Schächten ihre Nächte, um Schutz vor Bomben und
Raketen zu suchen.
Das könnten wir in diesen U-Bahn-Schächten sein, das könnten unsere Kinder sein.
Was
hier gerade mitten in Europa passiert, war für jemanden aus meiner
Generation bisher unvorstellbar. Es ist der Moment, in dem der
Angriffskrieg nach Europa zurückgekommen ist.
Unsere Welt ist nach diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg von Putin jetzt eine andere.Botschafter Melnyk, ich begrüße Sie hier im Saal stellvertretend für die über 40 Millionen mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer!Ich möchte Ihnen hier aus ganzem Herzen sagen: Das unsägliche Leid der Männer, Frauen und Kinder trifft uns ins Mark. Wir sind fassungslos angesichts dessen, was der Ukraine, den Menschen in der Ukraine erneut angetan wird. Aber wir sind nicht ohnmächtig.
Wir lassen Sie bei dieser rücksichtslosen Aggression gegen Ihr Land nicht alleine.
- Dieser Krieg ist kein Krieg der Menschen in Russland.
- Dieser Krieg ist Putins Krieg.
- Dieser
Krieg ist ein Angriff auf unseren Frieden in Europa.
- Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Freiheit. Dieser Krieg ist ein Angriff auf das internationale Völkerrecht.
- Dieser
Krieg ist ein Angriff auf all die Werte einer regelbasierten
internationalen Ordnung.
- Dieser Krieg ist ein Angriff auf das
menschliche friedliche Miteinander.
Und es ist ein Krieg, der es nötig macht, dass wir die Grundfesten unseres außenpolitischen Handelns neu ziehen. Vor wenigen Wochen noch habe ich hier in diesem Saal zum Thema Waffenlieferungen gesagt, dass man eine Entscheidung für eine außenpolitische 180-Grad-Wende im richtigen Moment und bei vollem Bewusstsein treffen muss. Jetzt ist - so traurig das ist - der Moment dafür.
Wir haben es bis zur letzten Minute mit Diplomatie versucht. Der Kreml hat uns hingehalten, belogen und sich all dem verweigert, wofür wir bisher als Europäerinnen und Europäer eingestanden haben. Putin wollte diesen Krieg - „whatever it takes“. Russland hat die Ukraine rücksichtslos angegriffen. Und die Ukraine hat wie jedes Land dieser Welt ein Recht auf Selbstverteidigung, verbrieft in der Charta der Vereinten Nationen. Und wir, die wir auf dem Boden des Völkerrechts stehen, stehen auch in der Pflicht, diese Charta der Vereinten Nationen jetzt gemeinsam zu verteidigen. Vielleicht ist es so, dass Deutschland am heutigen Tag eine Form besonderer und alleinstehender Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinter sich lässt. Die Regeln, die wir uns dafür gegeben haben, dürfen uns nicht aus unserer Verantwortung nehmen. Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein.Ein Land mit einer Parlamentsarmee und umfassender demokratischer Kontrolle darf und muss sich erlauben - und das tun wir mit dem heutigen Tag -, in Fragen von Krieg und Frieden in voller Verantwortung zu entscheiden. Wir werden bei Waffenexporten und Einsätzen weiter aus tiefster Überzeugung zurückhaltend sein. Wir werden uns aber in dieser historischen Stunde angesichts des brutalen Angriffs auf die Ukraine für eine Unterstützung entscheiden, die neben unserem großen wirtschaftlichen und humanitären Engagement die Ukraine jetzt auch mit Lieferung von militärischem Material und Waffen unterstützt. Denn wir dürfen die Ukraine nicht wehrlos dem Aggressor überlassen, der Tod und Verwüstung über dieses Land bringt.
Und
ich danke Ihnen allen sehr, wie auch der Bundeskanzler. Das ist die
Stärke dieses Hohen Hauses, das ist die Stärke unserer liberalen
Demokratie: dass wir bei Sachfragen erbittert streiten können, aber dass
wir in dem Moment, wo es darum geht, unsere Grundwerte zu verteidigen,
alle fraktionsübergreifend beieinanderstehen. Herzlichen Dank! Wir
tun das, weil es hier um Menschenleben geht. Wir tun das, weil unsere
internationale Ordnung auf dem Spiel steht. Wir tun dies mit
Besonnenheit und aus Verantwortung für unseren Frieden in Europa. Das
ist auch eine klare Botschaft an Wladimir Putin: Das Preisschild dieses
Krieges gegen unschuldige Menschen und der Bruch mit der Charta der
Vereinten Nationen werden für das System Putin untragbar sein. Wir
müssen - und das hat der Bundeskanzler unterstrichen - jetzt vieles
gleichzeitig tun. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in der
Ukraine schnell mit dem Nötigsten versorgt werden, mit medizinischen
Gütern, mit sicheren Unterkünften. Dafür
haben wir unter anderem unseren Beitrag zum humanitären VN-Hilfsfonds
für die Ukraine um 5 Millionen Euro aufgestockt. Wir stellen für das
Internationale Komitee vom Roten Kreuz weitere Hilfe in Höhe von 10
Millionen Euro kurzfristig bereit. Wir
werden uns mit allem, was wir haben, gemeinsam dafür einsetzen, dass
die Menschen, die jetzt fliehen, alle in Sicherheit kommen. Dafür haben
wir Vorbereitungen getroffen.
Auch das ist unsere Stärke, nicht nur in der Europäischen Union, sondern gemeinsam mit unseren Freunden in Kanada, in Amerika und an vielen, vielen anderen Orten in der Welt: Wir lassen die fliehenden Ukrainerinnen und Ukrainer nicht im Stich. Und ja, auch an dieser Stelle müssen wir über Geld reden. Ich bitte um die Unterstützung, im anstehenden Haushalt diese humanitäre Hilfe dann auch so auszustatten, wie wir das für den Schutz der Menschen brauchen.
Drei weitere Elemente sind entscheidend:
Erstens, Sanktionen. Die bittere Realität ist: Keine Sanktion kann diesen Wahn in diesem Moment stoppen. Wir hätten, wenn wir ein Sanktionsmittel hätten, das alles stoppt, natürlich dieses längst ergriffen. Aber was unsere Sanktionen leisten - und das ist zentral -, ist, Putin zu zeigen: Mittel- und langfristig wird dieser Krieg Ihr Land ruinieren. - Putins perfides Spiel ist auf Strecke angelegt; deswegen müssen das auch unsere Sanktionen sein, und deswegen müssen wir sicherstellen, dass uns nicht nach drei Monaten die Puste ausgeht, sondern diese Sanktionen müssen das System Putin im Kern treffen. Deswegen gehen sie Hand in Hand: wirtschaftlich, finanziell und individuell. Deswegen listen wir Herrn Putin selbst und Außenminister Lawrow. Sie tragen Verantwortung für diesen Krieg. Deswegen werden wir weitere Sanktionen auf den Weg bringen, mit Blick auf Banken, Oligarchen und Familienangehörige. Deswegen haben wir die SWIFT-Sanktionen - und ich kann verstehen, dass da einige etwas nervös geworden sind; aber ich bitte in diesen Zeiten um Vertrauen - so angelegt, dass sie das System Putin treffen und nicht als Boomerang auf uns zurückkommen, und das gemeinsam mit der internationalen Verantwortung, die wir jetzt gemeinsam zeigen müssen.
Zweitens.
Wir unterstützen unsere Bündnispartner im Namen der NATO; das hat der
Bundeskanzler bereits deutlich gemacht. Die NATO ist der Garant für
unsere Sicherheit und Freiheit. Dafür wurde sie gegründet, und daran hat
sich nichts geändert.
Und
mein letzter Punkt: Ja, wir müssen Härte zeigen; aber wir stehen hier
für das internationale Recht und die internationalen Regeln ein.
Deswegen gehört in diesem Moment der Dialog immer mit dazu, nicht mit
dem Aggressor, sondern mit der internationalen Gemeinschaft. Das muss
jetzt unser absoluter Fokus sein. Es
geht hier nicht nur um Europa. Kein Land der Welt kann akzeptieren,
dass seine Souveränität zur Disposition steht, wenn sein stärkerer
Nachbar es will. Dann hätte Putin gewonnen. Deswegen
müssen wir uns jetzt gemeinsam mit allen Staaten, die wie wir an die
Charta der Vereinten Nationen glauben, dieser Aggression
entgegenstellen.
Deswegen appelliere ich auch hier an all unsere Partner weltweit hier aus diesem geschichtsträchtigen Hohen Haus: Bekennen Sie nächste Woche Farbe in der Generalversammlung der Vereinten Nationen! Das ist unsere internationale Friedensordnung. Wir müssen sie jetzt gemeinsam verteidigen.
Bei der Wahl zwischen Krieg und Frieden, bei der Wahl zwischen einem Aggressor auf der einen Seite und Kindern, die sich in U-Bahn-Schächten verstecken, auf der anderen Seite, da kann niemand neutral sein.
Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Sondersitzung des Bundestags zum Russlandkrieg