Erst die
Arbeit, dann das Vergnügen! Oder doch eher die Altersarmut? Darüber,
dass die Tendenz zum letzteren zunimmt, referierte Prof. Dr. Irene
Götz, Dekanin am „Institut für Empirische
Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie“ der LMU München,
vergangenen Donnerstag im Münsteraner „Institut für vergleichende
Städtegeschichte“. Ihr Buch „Kein Ruhestand - Wie Frauen mit
Altersarmut umgehen“ beleuchtet die Ursache von Altersarmut
speziell an Frauen, die Ende der 60er und Anfang der 70er des
vergangenen Jahrhunderts ihre eigene Familie gründeten.
Foto: Prof Dr. Irene Götz während ihres Vortrages im Münsteraner „Institut für vergleichende
Städtegeschichte“
Götz
stellte fest, dass sich die Ergebnisse aus den Interviews sehr stark
überschnitten und fasste in ihrem Vortrag die wichtigsten Punkte
zusammen: Hauptursache der Altersarmut sei, dass sowohl die Mieten
als auch die Lebenshaltungskosten immer mehr ansteigen. Die Höhe der
Rente habe gleichzeitig stark abgenommen.
Im familiären
Bereich traten bei einer hohen Anzahl der Münchener Nachkriegsfrauen
drei Ursachen auf: Erstens wurden viele von ihrem Ehemann verlassen
und verloren als Alleinerziehende das unterstützende Umfeld. Ihre
Ex-Männer hatten sie mit ihren Kindern sitzen gelassen und zahlten
nur geringen bis gar keinen Unterhalt. Zweitens wurde ihnen eine
starke Familienbindung anerzogen: Die Mutter hat ihre Kinder nicht
nur aufzuziehen, sondern muss ihnen auch eine abgesicherte Zukunft
ermöglichen. Viele der Interviewten opferten ihr Geld, um die
berufliche Laufbahn ihrer Kindern oder die ihrer Enkel zu stützen. Symptomatisch war auch die Haltung, dass man als Mutter bis ins hohe Alter
keine finanzielle Hilfe der Kinder annehmen dürfe, um den letzteren
nicht zur Last zu fallen. Drittens haben viele Pflegefälle in ihrer
Familie gehabt, wegen denen sie nur Teilzeit arbeiten gehen konnten
oder Mehrausgaben auf sich nehmen mussten.
All diese Faktoren
traten bei der Interviewten Dawina Bublicka (Name aus
Anonymitätsgründen von Götz abgeändert) gemeinsam auf: Eine
Kroatin, die während des Krieges in den 90ern mit ihren fünf
Kindern nach Deutschland floh und von ihren Mann verlassen wurde. Sie
schaffte es mit Mühe, sich hier zur Altenpflegerin umschulen zu
lassen: Ein Vollzeitjob, in dem sie sich über mehrere Jahrzehnte bis
zur Stationsleiterin hocharbeitete und rund 2.000 Euro verdiente.
Dafür springt für Dawina aktuell eine Rente von 1.250 Euro
monatlich raus. Dieses Geld gab Dawina an den Rest der Familie
weiter: An ihre Mutter, die als schwerer Pflegefall in einem
kroatischen Heim bleiben musste und auf die Finanzspritze angewiesen
war. Dawina finanzierte auch ihren drei Enkeltöchtern
Auslandsaufenthalte und unterstützte ihre Tochter, als diese
Schulden für ihre Zahnarztpraxis abbezahlen musste.
An
diesem Fallbeispiel brachte Götz den entscheidenden Mangel auf den
Punkt, der für Altersarmut verantwortlich ist – nicht nur bei
Flüchtlingen, sondern auch ganz allgemein bei den Deutschen: Die
Rente sei so niedrig, dass sie nur durch angesparte Altersvorsorge
hoch genug zum würdigen Überleben ist. Es könne aber nicht jeder
ansparen, wenn immer häufiger Umstände auftreten, wegen derer das
Geld direkt für die Aufrechterhaltung der Familie ausgegeben werden
muss.
Dass eine Altersvorsorge zwecks angemessener Rente
notwendig ist, belegte Götz statistisch: In München leben 22
Prozent aller Rentner an der Schwelle zur Armut, nur sechs Prozent
davon bekommen Sozialleistungen. Auch die Münchener, die Jahrzehnte
lang Vollzeit gearbeitet haben, würden oft Opfer massiver
Altersarmut: Die hohen Mieten der Stadt stünden in keiner Relation
zur mickrigen Rente, es sei denn man „riestert“. 2016 habe die
Rente der Münchener bei Frauen durchschnittliche 785 Euro im Monat
betragen, bei Männern 1.100 Euro.
Foto: Die von Götz präsentierten Forschungsergebnisse sind in ihrem Buch "Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen" zusammengefasst.
Götz und ihre Kollegen
besuchten auch die Wohnungen der Interviewten. Das Team konnte sich
so einen Eindruck machen, in welchen Zuständen die Rentnerinnen
lebten und mit welchen Sparmaßnahmen sie sich im Alltag über Wasser
halten: Viele schränken sich beim Essen ein – eine der
Interviewten kochte Krautwickel aus Kohlrabi, wenn sie ein besonderes
Essen haben wollte. Auch sparen die stärker Betroffenen bei der
Gesundheitsvorsorge ein – zum Beispiel indem sie nicht mehr zum
Zahnarzt gehen. Andere verzichten aufs „Kaffeetrinken gehen“ mit
Freunden oder heizen nur noch einen einzigen Raum in ihrer Wohnung.
Eine berührende soziale Lösung waren die Tauschgeschäfte mit
Nachbarn und Freunden: Eine Rentnerin strickte Kleidung für
Freundinnen, die ihr dafür Lebensmittel gaben.
Götz
Vortrag gab einen Einblick in einen sozialen Abgrund, den sie immer
wieder als Widerspruch des politischen Systems zusammenfasste:
Einerseits wird der Einzelne mit familiären Umständen wie
Pflegefällen – bei Frauen auch oft Scheidungen – alleine
gelassen. Andererseits können selbst viele Vollzeit-Arbeiter ihr
Geld nicht für derlei Sondersituationen ausgeben, wenn ohne
Altersvorsorge für sie später als Rentner noch nicht mal die Miete
zahlbar ist.
Das
bestmögliche Mittel zum Überstehen der Altersarmut sieht Götz in
den oben angesprochenen Tauschgeschäften: „Ein gutes soziales und
kulturelles Kapital kann das fehlende ökonomische Kapital durchaus
kompensieren.“ Dafür sind aber besonders gute Beziehungen in
Familie, Freundeskreis oder Nachbarschaft notwendig: Der Rentner muss
etwas für sein Gegenüber tun können und das Gegenüber etwas
zurückgeben wollen.
Tobias Hachmann