Lieber Dennis Snower,
sehr geehrte Damen und Herren,
am
24. Februar hat Präsident Putin einen grausamen Angriffskrieg gegen die
Ukraine vom Zaun gebrochen – einen Angriffskrieg, der die europäische
und weltweite Friedensordnung in Gefahr bringt. Im Bundestag habe ich
von einer Zeitenwende gesprochen. Das war zunächst einmal ein
Handlungsaufruf an uns selbst, an Deutschland; ein Aufruf, mehr zu
investieren in unsere Sicherheit, in die Sicherheit Europas und des
transatlantischen Bündnisses; aber auch ein Aufruf, strategische
Abhängigkeiten abzubauen – vor allem im Energiebereich.
Aber auch
global erleben wir eine Zeitenwende. Russland bemüht sich nicht einmal,
seinem Überfall auf die Ukraine auch nur den Anschein völkerrechtlicher
Legitimität zu geben – ganz zu schweigen vom humanitären Völkerrecht,
das Russland mit jeder gezielten Bombardierung von Wohnhäusern, Schulen
und Kliniken bricht.
Für das, worüber wir heute reden – „global
governance“ und „global solutions“ –, bedeutet das zweierlei. Erstens:
größtmögliche Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft. Das ist
unser wichtigstes Gut – unser wichtigstes Gut, um die Grundsätze
internationaler Ordnung zu verteidigen und den Frieden in Europa
wiederherzustellen. Zweitens brauchen wir sehr schnell eine
Verständigung darüber, wie wir trotz dieser Zeitenwende die Arbeit an
den Zukunftsfragen der Menschheit global und multilateral weiter
voranbringen. Es ist gut, dass wir heute Gelegenheit haben, über beides
zu diskutieren.
In punkto Geschlossenheit haben wir in den
vergangenen Wochen Maßstäbe gesetzt. Erst am vergangenen Donnerstag hat
es in Brüssel – zum ersten Mal überhaupt an ein und demselben Tag –
Gipfeltreffen der NATO, der G7 und der Europäischen Union gegeben. Diese
Treffen zeigen: Eine breite globale Allianz für Frieden und Recht steht
heute enger zusammen denn je.
Der historische Tag mit den
Gipfeln von NATO, G7 und Europäischem Rat hat eines noch einmal ganz
deutlich gemacht, was im multilateralen Tagesgeschäft oft übersehen
wird: Unsere Bündnisse und Allianzen sind mehr als bloße
Zweckgemeinschaften. Unsere Einigkeit ist nicht allein dem kollektiven
Entsetzen über Russlands Völkerrechtsbruch geschuldet. Sie ist vor allem
auch das Ergebnis wochen- und monatelanger intensiver
Abstimmungsprozesse, die wir gemeinsam mit unseren Partnern geführt
haben.
Darum ist es kein Zufall, dass die Sanktionen Russland so
hart und so zielgenau treffen. Klar ist: Wir haben noch weitere
Möglichkeiten in der Hinterhand, die wir, wenn nötig, gezielt einsetzen
werden. Bis nach dem Angriff die ersten Sanktionen verhängt wurden, hat
es – anders als früher – nicht Wochen oder Monate gedauert, sondern
Stunden. Inzwischen ist Russland im internationalen Wirtschafts- und
Finanzsystem weitgehend isoliert. Und wir erhöhen den Druck weiter.
Unter
unserer G7-Präsidentschaft hat die Gruppe der wirtschaftsstarken
Demokratien auf ihrem Gipfel vorige Woche weitere ganz konkrete
Beschlüsse gefasst: Gemeinsam erhöhen wir nochmals die Hilfen für die
Ukraine. Gemeinsam verstärken wir auch die Unterstützung für die
Nachbarstaaten der Ukraine. Gemeinsam verpflichten wir uns zur Aufnahme
von Flüchtlingen aus der Ukraine. Gemeinsam arbeiten wir daran, die
Energieabhängigkeit von Russland zu verringern. Und gemeinsam entwickeln
wir Lösungen für den Fall von Versorgungsengpässen mit Energie sowie
für die weltweite Ernährungssicherheit.
Deutschland stockt seine
humanitäre Unterstützung für die Ukraine und ihre Nachbarstaaten auf
370 Millionen Euro auf, und wir werden zusätzliche 430 Millionen Euro
für den weltweiten Kampf gegen Hunger bereitstellen. Ein großer Teil
davon kommt dem Welternährungsprogramm zugute, das von den aktuellen
Preissteigerungen besonders betroffen ist. Gerade in dieser schwierigen
Zeit zeigt sich: In der G7 stehen Partner zusammen, die von gemeinsamen
Werten, Interessen und Verpflichtungen geleitet werden. Das macht uns
stark.
Das bringt mich zur zweiten Frage: Wie können wir diese
Geschlossenheit, die wir gerade erleben, nutzbar machen für die Lösung
globaler Probleme? Als Wertegemeinschaft der wirtschaftsstarken
Demokratien kommt der G7 auch dabei ganz besondere Bedeutung zu.
„Fortschritt
für eine gerechte Welt“ – unter dieser Überschrift haben wir unsere
G7-Präsidentschaft begonnen. Denn so dramatisch und tragisch der
Angriffskrieg gegen die Ukraine ist: Er darf nicht dazu führen, dass wir
als G7 unsere Verantwortung für globale Herausforderungen wie die
Klimakrise oder die Pandemie vernachlässigen. Im Gegenteil: Viele der
Ziele, die wir uns zu Jahresbeginn vorgenommen haben, werden angesichts
der veränderten Weltlage sogar noch drängender.
Schon jetzt ist
außerdem klar: Angesichts von Millionen von Flüchtlingen in und aus der
Ukraine rücken nun auch humanitäre Fragen in den Fokus unserer
Präsidentschaft. Das spiegeln unsere Beschlüsse der letzten Woche wider.
Hinzu
kommt: Die Corona-Pandemie ist ja nicht vorbei. Darum wollen wir in
unserer G7-Präsidentschaft das Thema Impfstoffgerechtigkeit
voranbringen. Das Ziel der WHO, 70 Prozent aller Menschen weltweit zu
impfen, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren – so ehrgeizig es
klingt. Denn die Pandemie ist auch bei uns erst vorüber, wenn wir sie
weltweit im Griff haben.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat die
Weltgemeinschaft den ACT-Accelerator ins Leben gerufen – eine
Initiative, die Impfstoffe, Medikamente und Tests weltweit verfügbar
macht. Für dieses und weitere Programme wird Deutschland in diesem Jahr
1,5 Milliarden Dollar an zusätzlichen Mitteln bereitstellen. Damit
setzen wir während unserer G7-Präsidentschaft ein Zeichen der
Verantwortung und Solidarität. Um diese Pandemie zu bewältigen und für
weitere Gesundheitskrisen vorzusorgen, setzen wir zudem auf eine
Stärkung der Weltgesundheitsorganisation und ihre auskömmliche
Finanzierung.
Wir brauchen eine starke internationale
Gesundheitsinfrastruktur – gerade mit Blick auf künftige Krisen. Deshalb
werden wir auch die globale Impfstoffproduktion voranbringen. Erst vor
wenigen Wochen haben wir zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus vier
afrikanischen Ländern, der Europäischen und der Afrikanischen Union
sowie BioNTech ein erstes Projekt auf den Weg gebracht, mit dem wir die
Produktion von mRNA-Impfstoffen in Afrika anschieben.
Und gerade
jetzt setzen wir uns für Frieden und Sicherheit, für offene und
resiliente Gesellschaften sowie den Schutz und die Stärkung der
Menschenrechte ein. Das sind natürlich dauerhafte Aufgaben. Aber wir
sehen, dass wir angesichts des Krieges Menschenrechtsverteidiger,
Journalistinnen, Forscherinnen und Künstler aus der Ukraine verstärkt
unterstützen und schützen müssen, und auch das werden wir tun.
Die
Verteidigung von freiheitlicher Demokratie, von gesellschaftlicher
Teilhabe und Pressefreiheit, die Abwehr von Desinformation und
Cyberangriffen, das alles setzt eigene Stärke voraus. In der G7 heißt
das etwa, dass wir uns in Bezug auf Desinformationskampagnen noch
intensiver austauschen und unsere Reaktionen koordinieren.
Gedanken
müssen wir uns aber auch darüber machen, wie wir unsere Zusammenarbeit
international organisieren. Die Vereinten Nationen, die G20, die WTO,
sie bleiben essenziell für globalen Austausch, Legitimität und die Suche
nach Kompromissen. Aber machen wir uns nichts vor: Mit einem Russland
auf Kriegskurs, aber auch mit anderen autoritären Staaten wird das in
den nächsten Jahren nicht leichter. Umso wichtiger sind neue Impulse,
ambitionierte Ziele und kreative Ideen von außen.
Wer Wandel
voranbringen will, der sollte mit denen zusammenarbeiten, die für Wandel
stehen. Oft sind das die Akteurinnen und Akteure der
Zivilgesellschaften. Deshalb haben wir unsere Präsidentschaft so offen
und so inklusiv angelegt wie möglich. Wir setzen auf den intensiven
Dialog mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, mit
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Jugendlichen, Frauen,
NGOs und Thinktanks. Ich weiß, auch vielen von Ihnen ist das ein
wichtiges Anliegen, und ich freue mich, lieber Dennis Snower, dass die
Global Solutions Initiative und das Deutsche Institut für
Entwicklungspolitik mit „Think7“ dazu einen großen Beitrag leisten.
Es
geht mir aber um mehr als um Mitsprache und Beteiligung. Einen
Paradigmenwechsel streben wir insbesondere auf einem Feld an, auf dem zu
lange zu wenig vorangekommen ist. Ich spreche von der internationalen
Klimapolitik. Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist gewaltig, wenn wir das
1,5-Grad-Ziel erreichen wollen – und das müssen wir. Konkret bedeutet
das: Bis 2030 müssen wir die globalen CO2-Emissionen um
45 Prozent gegenüber 2010 reduzieren, und bis zur Jahrhundertmitte
müssen wir global „Netto Null“ erreichen, das heißt CO2-Neutralität.
Mit
einer internationalen Klimapolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners
gelingt das sicher nicht. Statt auf die Langsamsten zu warten, werden
wir deshalb zusammen mit den Ambitioniertesten vorangehen. Das ist die
Idee eines offenen, kooperativen Klima-Clubs, den wir auf dem G7-Gipfel
im Juni in Elmau voranbringen wollen. Gemeinsam mit anderen engagierten
Ländern wollen wir Mindeststandards für den Klimaschutz identifizieren.
So entsteht ein internationaler Markt mit vergleichbaren
Wettbewerbsbedingungen, der Staaten für klimafreundliches Wirtschaften
belohnt und vor Wettbewerbsnachteilen schützt.
Das ist das Konzept – aber wie wird es Wirklichkeit?
Drei Dinge sind wichtig:
- Erstens
müssen sich die Staaten zu ehrgeizigen Standards für den Klimaschutz
bekennen. Natürlich werden nicht alle von heute auf morgen einen CO2-Preis
einführen. Trotzdem können viele Maßnahmen ergriffen werden, um auf dem
Weg zur Treibhausgasneutralität voranzukommen, etwa der schnelle Ausbau
von erneuerbaren Energien oder der Abbau von Subventionen für fossile
Energien.
- Zweitens ist es wichtig, die grüne
Transformation der Industrie voranzutreiben. Wir brauchen einen
gemeinsamen Ansatz für die Dekarbonisierung der Industrie, um die
Abwanderung von Unternehmen in Länder mit laxer Klimapolitik zu
verhindern. Der Klima-Club soll daher zu einem Katalysator werden, um
gemeinsam saubere, junge Technologien voranzubringen, etwa grünen
Wasserstoff.
- Drittens brauchen wir internationale Partner weit
über die G7 hinaus, die sich ebenfalls einer ehrgeizigen Klimapolitik
verschreiben.
Dieser
letzte Punkt, der offene und kooperative Charakter des Klima-Clubs, ist
entscheidend; denn ohne eine Zusammenarbeit zwischen großen Emittenten,
Schwellen- und Entwicklungsländern kommen wir nicht weiter. Als
derzeitiger G7-Vorsitzender werbe ich deshalb dafür, dass beispielsweise
auch unsere afrikanischen und indopazifischen Partner im Klima-Club
mitwirken.
Damit das für sie interessant ist, werden wir
natürlich auch über Klimafinanzierung und Technologietransfers reden.
Damit ersetzen wir nicht die bestehenden Prozesse im internationalen
Klimaschutz – wir ergänzen und beflügeln sie. Dass so ein Ansatz
gelingen kann, haben wir in der Debatte um die globale Mindeststeuer
erlebt. Auch dort mussten einige gemeinsam vorangehen und dann nach und
nach die anderen an Bord bringen.
Meine Damen und Herren, in
diesem Geist gehen wir auch an die Vorbereitung des Gipfels in Elmau.
Genau drei Monate sind es noch bis dahin. Mein Ziel ist, dass von diesem
Gipfel ein starkes Zeichen der G7 ausgeht – für Fortschritt, für
Wohlstand, für Frieden und Sicherheit.
Jetzt freue ich mich auf den Austausch mit Ihnen. Schönen Dank!