Im Alter von neun Jahren verbrannte
Madeline Usher (gespielt von Marielle
Murphy) in einem Feuer. Ihr Bruder Roderik
(gespielt von Youn-Seong
Shim) hält sich noch viele Jahre später
dafür verantwortlich. Er ist seit Madelines Tod der letzte
Überlebende des Hauses Usher. Er steht unter dem permanenten Strom
eines Wahnsinns: Schuldgefühle? Angst vor dem Untergang des
Vermächtnisses seiner Linie? Roderick selber führt seinen Zustand
auf paranormale Kräften eines Familienfluches zurück. Per Brief
lädt er seinen Jugendfreund William (gespielt von Filippo
Bettoschi) ein, mit dem er damals als Kind die
Verbrennung Madelines unmittelbar erlebte. Roderick erhofft sich,
durch Williams Erinnerungen den Knoten des Fluches zu lösen, der
seit dem Tod Madelines auf ihm und dem Anwesen lastet.
So
könnte man die schaurige Vorgeschichte umreißen, an deren Ende die
Oper „Der Untergang des Hauses Usher“ einsetzt. Philip Glass
lehnte sein Werk an die gleichnamige Horror-Novelle von Edgar Allan
Poe an. Er änderte den Inhalt für seine moderne Bühnenfassung
jedoch deutlich ab.
Der Zuschauer muss sich besagte
Vorgeschichte Stück für Stück aus den Erinnerungen von Roderick
und William zusammensetzen. Schließlich spielt Philip Glass Werk mit
der Erzähltechnik der Rückblende: Kurz nach seiner Ankunft im
Anwesen schenkt
der eingeladene William Gastgeber Roderick eine Spieluhr. Diese ist
eine Erinnerung an die gemeinsame Kindheit, deswegen Szenenwechsel in
die Retrospektive: William, Roderick und Madeline treten als
Jugendliche auf die Bühne. Eine vor Horror brillierende Vermischung
zwischen Schuldbewusstsein, Vergangenheit und Gegenwart nimmt ihren
Lauf. Nicht unterscheidbare Übergänge ziehen einen immer mehr in
den Abgrund von Rodericks Verrücktheit hinab – und in das
Mysterium der Frage: Ist Madeline wirklich tot, eine Imagination von
Rodericks Unterbewusstsein oder doch eher spukender Geist?
Foto: Roderik (Youn-Seong
Shim) und William (Filippo Betoschi)
Flüssige
Rückblenden und Szenewechsel waren also nötig. Sie wurden sehr
experimentell durch ein einzelnes vielseitig verwendetes Requisit
inszeniert: Am Anfang steht in der Bühnenmitte eine große
Seitenwand im Querschnitt. Sie repräsentiert das verfallene Anwesen
der Usher. Nach einigen Minuten dreht sie sich um 90 Grad: Aus der
Wand wird eine drei Meter hohe Maske – angefertigt von Roderick als
eine Art emotionalen Ersatz für die verbrannte Madeline. Immer
wieder junge Tänzerinnen auf der Bühne, ab und an in einem beigen
Kostüm, das nackte Haut repräsentierte. Sie fallen wie Leichen zu
Boden. Roderick sammelt vom Leichenberg einen Hautfetzen (den
Stofffetzen von einem der beigen Kostüme) auf und nun der große
Schock: Er klebt die Leichenhaut an die große Maske. Erst jetzt wird
klar, dass letztere schon die ganze Zeit lang mit dem Gewebe von
Toten überzogen ist.
Dann dreht sich die Maske dreht um 180
Grad und die Andeutung auf Roderiks Tötungswahn bestätigt sich: Auf der Rückseite der Maske
zeigt sich ein OP-Saal, in dem ein Arzt (gespielt von Pascal
Herington) einzelne der tanzenden Mädchen mit diversen Instrumenten
ermordet. Ab und an karrt ein Diener ein paar Kadaver zu Roderick –
dem „Maskenbildner“ im etwas anderen Sinne, der den Tod seiner
Schwester Madeline zu kompensieren versucht.
Foto: Die Geister der Tänzerinnen, die von Roderiks Arzt aufgeopfert wurden, in morbider Verkleidung
Geplant und
umgesetzt wurde diese geniale Requisiten-Inszenierung durch Regisseur
Sebastian Ritschel. Er hat die große Maske in Zusammenarbeit mit
Sophia Debus entworfen, gebastelt und sich die kreativen
Szenenwechsel ausgedacht. Das Orchester gliederte sich unter Dirigent
Stefan Veselka in die Mischung aus Oper und moderner Kunst ein: Mal à
la Wagner, mal mit Pop-Einflüssen, plötzliche Pausen bei
plötzlichen Wendungen - dann einzelne leise Klarinettentöne als
paranormales Flüstern von Madelines Geist. Der Gesang der Darsteller
war sehr kunstvoll mit dauerhaftem Vibrato, fügte sich aber dennoch
ins Abstrakte: Nur relativ wenige Worte im gesungenen Text, die eher
Andeutungen waren.
Der Höhepunkt des Horrors wurde mit viel
Raum zur Interpretation ans Ende gesetzt: Madeline steigt aus ihrer
Gruft. Sie bewegt sich geisterhaft. Auf ihrem goldenen Kostüm Spuren
von Verbrennungen, aber auch Hautfetzen – exakt dieselben, die an
der großen Maske kleben. Repräsentiert Madeline eine bloße
Einbildung von Roderiks Schock über ihre Verbrennung – seinen mörderischen Wahnsinn, seine Angst vor dem Untergang seines
Familiengeschlechts? Oder ist sie ein realer Geist, der auf Rache aus
ist weil sie wirklich von Roderick umgebracht wurde? Eine weitere
schaurige Interpretation ist ebenfalls möglich: Eine Rückblende in
der Mitte des Stücks zeigte, wie Roderick und William damals nach
dem Brand Madelines Leichnam in die Gruft trugen. Dabei schimmerte
eine leichte Andeutung durch, dass Madeline eventuell nicht wirklich
tot war, sondern lebendig begraben wurde.
Philip Glass ist
ein sehr tiefsinniges Werk gelungen, das dem Zuschauer keine
Horror-Abgründe vorsetzt, sondern ihn dazu animiert, sie sich selber
auszumalen. Die Gedanken werden durch Experimente mit Zeitsprüngen
und dem offenen Wechsel zwischen Geistform und Materialität
angestoßen.
Vor
allem die große Maske als nahezu einzige Kulisse transportiert die
fließenden Übergänge durch ihren vielfältigen Einsatz: Ein
Kopfkino fürs Unterbewusstsein aus Verfall, Angst, Wahnsinn und Tod.
Das Orchester und der Ausdruckstanz der von Rodericks Arzt ermordeten
Tänzerinnen fügen sich darin ein: Andächtige Klassik,
Mysteriösität und abstrakte Dekadenz gehen musikalisch ineinander
über. Das Publikum im ausverkauften Stadttheater zollte nach der
90-minütigen Vorstellung gebührenden Applaus.
Tobias
Hachmann