Bulletin 40-3
"Sehr geehrte Frau Botschafterin Descôtes,
lieber Herr Guez,
liebe Gäste,
bei der Vorbereitung auf diese Veranstaltung musste ich an Bert Brecht denken. Er hat ein Gedicht geschrieben, das, wie ich finde, in diesen Zeiten ziemlich passend ist:
„Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“
Der heutige Abend war dazu gedacht, durch Ihre Erzählungen Europa zur Sprache zu bringen, Europa als kulturellen Raum, als Raum verschiedener Erzählungen, aus denen dann neue gemeinsame Erzählungen entstehen. Aber können wir über das schweigen, was in der Ukraine gerade passiert? Das Leid der Menschen geht uns allen sehr, sehr nah. Das hat nicht nur damit zu tun, dass etwas, das wir oft fern geglaubt haben, nämlich ein Krieg, plötzlich geografisch so nah ist, sondern natürlich auch mit der inneren Verbundenheit. Da ist in der Tat ein Krieg in Europa – ein Krieg zwischen dem flächenmäßig größten Land in Europa, Russland, und dem zweitgrößten Land, der Ukraine. Es ist ein Krieg, in dem Russland die Ukraine angreift. Sie ist ein Land in unserer Nachbarschaft. Der Angriff gilt der Demokratie, der Freiheit, der Selbstbestimmung – all dem, was für uns Europa unmittelbar ausmacht.
Sie, Herr Guez, sprechen im Vorwort Ihres Buches von verborgenen Gemeinsamkeiten. Der Krieg – das kann man sagen – hat sie jetzt offengelegt. Denn wir sind uns über diese Frage doch sehr, sehr einig. Es geht um Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung der Völker.
Für mich folgen daraus ein paar Dinge.
Zunächst einmal: Wir dürfen die Demokratie, die Freiheit und unsere europäischen Werte nicht für selbstverständlich nehmen. Wir müssen verstehen, dass wir sie immer wieder neu verteidigen müssen und dass sie niemals sicher sind. Das gilt nicht nur für die Vergangenheit; das wird auch in der Zukunft für uns immer etwas sein, dessen wir uns ganz sicher sein müssen.
Wir müssen aus den Gemeinsamkeiten dann natürlich auch Verbindungen machen und Europa als etwas verstehen, das gemeinsame Traditionen hat, die zusammenführen sollen und nicht auseinander. Es gehört, finde ich, zu den dramatischen Ereignissen dieser Tage, dass das Blättern in Geschichtsbüchern Anlass für Kriege gibt, dass der Hinweis auf historische Grenzen, auf historische Räume plötzlich die Ursache dafür bietet, dass ein Staat den anderen überfällt. Wer sich genug mit der Geschichte beschäftigt hat, der weiß ganz genau, dass es dann vielerlei Anlass für viele Kriege gäbe.
Deshalb war es eine der ganz großen Errungenschaften der Nachkriegszeit und insbesondere eine der Errungenschaften, die wir seit den 90er Jahren gemeinsam geschaffen haben, uns darauf zu verständigen, dass Grenzen nicht mehr gewaltsam verschoben und dass Staaten nicht mehr mit dem Hinweis auf Geschichtsbücher bekriegt werden.
Das ist es aber, was uns gerade passiert. Wenn wir dagegen vorgehen wollen, dann müssen wir unsere Möglichkeiten miteinander entfalten. Das, was die Politik, die Staatengemeinschaft, der Verbund, den wir haben, entfalten kann, tun wir mit Sanktionen, mit Hilfe und mit Unterstützung der Ukraine und natürlich immer wieder mit dem Verlangen nach einem Ende des Krieges und dem Verlangen, dass wir einen Abzug der Truppen bewirken können. Aber wir brauchen nicht nur das Handeln der Staaten, sondern wir brauchen auch die Zivilgesellschaft; wir brauchen die Kunst, die Medien und die Kultur, die in dem, was sie tun, aus den Verschiedenheiten Gemeinsamkeit schaffen.
Das ist vielleicht auch der ganz große Unterschied zu dem Russland Putins. Ich sage das bewusst in Bezug auf den Präsidenten und ihn als Person. Er glaubt nicht an die Möglichkeit des Pluralismus. Er glaubt nicht daran, dass man in der Verschiedenheit Gemeinsamkeit hervorbringen kann, sondern er glaubt daran, dass man alles einheitlich durchgestalten muss und dass Autorität über allem stehen muss. Das ist ein Fehler, und es ist ein schrecklicher Fehler, der jetzt einen Krieg mitproduziert hat, der ein Verbrechen nicht nur an den Ukrainerinnen und Ukrainern ist, sondern auch am russischen Volk.
Das Buchprojekt, das wir hier haben, ist etwas ganz Großartiges in dieser Zeit. Es sammelt Erfahrungen und Erinnerungen aus allen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Das ist etwas ganz Besonderes, weil es das Projekt der Europäischen Union würdigt. Immer schwingt mit – das muss und soll uns in diesen Tagen auch ganz klar sein , dass die Europäische Union nicht ganz Europa ist, sondern dass der europäische Kontinent noch weiter reicht und dass wir kulturelle Traditionen haben, die über das, was in der Union zusammenwächst, hinausreichen. Gleichwohl ist das ein großartiges Projekt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass es gelungen ist, das in dem Buch zusammenzuführen, und dass wir heute ein wenig daran partizipieren können, indem wir mit Ihnen diskutieren und das hören, was Sie sagen werden.
Als ich in Moskau war, habe ich nicht nur mit dem Präsidenten gesprochen, sondern auch mit einem russischen Dissidenten. Er hat mir die Worte gesagt: Demokratie wächst aus den Menschen heraus. Das ist meine feste innere Überzeugung. Meine Überzeugung ist auch, dass Kunst und Kultur Freiheitsräume schaffen, Freiheitsräume, die wir dringend brauchen. Deshalb brauchen wir auch die Künstlerinnen, die Schriftsteller und die Journalisten. Und die, die in der Ukraine und in Russland jetzt bedroht sind, brauchen unsere Solidarität. Wir haben deshalb ein Schutzprogramm aufgelegt, um Medienschaffende aus der Ukraine zu unterstützen. Es gibt auch Stipendien und Residenzen für Künstler aus der Ukraine und bewusst auch aus Russland, als sichtbaren Ausdruck verborgener Gemeinsamkeit und eines Gemeinsamen, das wir in Europa haben.
Schönen Dank und einen schönen guten Abend!"
Die Bundesregierung
Foto: Olaf Scholz / CMYK / Thomas Trutschel / Photothek