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Survival training – ohne Werbepause

Ja, vielen Menschen geht es derzeit gut, Gottseidank. Denn arm sein übertrifft die schlimmsten Befürchtungen.

Laut UN ist man arm, wenn man weniger als 1,5 Dollar pro Tag und Person hat. Aber das bringt nicht auf den Punkt, was Armut ist und vor allem, was das im Alltag bedeutet. Armut, das heißt, für seine Kinder, wenn überhaupt, die billigen Lidl Wurstscheiben abzuzählen. Und zum 450 Euro Job oder zum Amt läuft man natürlich zu Fuß, weil man sich selbst 20 Euro im Monat für den Bus nicht leisten kann.


Wenn Hosen und Pullover selbst bei Erwachsenen in zweiter Generation aufgetragen werden, dann ist man zu arm für Eitelkeit. Armut heißt, nichts zu haben, gar nichts, nicht ein bisschen oder weniger als andere, sondern niente, nada, nichts. Wenn man arm ist, dann ist der Kühlschrank leer, dann hat man nicht mal mehr Fruchtfliegen.


Wenn man zu den unteren zehn Prozent der Gesellschaft gehört, bedeutet essen gehen, Pizza in den Backofen schieben und nicht, sich auf zwei Gläser Pino Grigio im Restaurant zu beschränken. Arm heißt: Magen knurren und Existenzangst. Wer arm ist, ist immer „geladen“, weil der Kampf ums Überleben die letzten Reserven anknabbert und zwar 24/7, bei manchen ein Leben lang.


Arm ist nicht, einen alten Mercedes fahren, sondern in kaputten Schuhen herumlaufen, im Winter frieren und im Sommer stinken, weil man an den 60 Cent für Duschgel spart, damit es Abends für die Kids auch mal für eine Tafel Schokolade reicht. Arm ist, wenn sich die Kinder ständig für einen schämen und sie bei den anderen nicht mithalten können.


Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass viele Frauen nach der Mahlzeit einen Rest auf dem Teller behalten. Das ist ein evolutionäres Rudiment aus der Steinzeit, denn die Mutter hat immer etwas für den Nachwuchs aufbewahrt. Armut ist, wenn man das als Vater und Mutter immer macht. Nicht, weil man satt ist, sondern weil man möchte, dass wenigstens der Nachwuchs ohne Magenknurren ins Bett geht.


Wer als Student arm ist, der überlegt, wie er Kopierkosten von vier Cent noch reduzieren kann. Als armer Mensch fährt man nicht kostenlos mit dem Semesterticket nach Köln, weil man sich das nicht leisten kann. Denn jene Berechtigung zu studieren kostet 295 Euro für sechs Monate, die man im „worst case“ von 931 Euro BAFöG (ein Kredit, den man nach dem Studium zu 50 Prozent, jedoch maximal 10.000 Euro, zurückzahlen muss) zu sparen hat, die übrigens noch einmal von Euro189 monatlich für die Krankenkasse reduziert werden. Ach ja, die Miete muss natürlich auch noch abgezogen werden.


Und wer nicht studiert und trotzdem (selbst verschuldet oder unverschuldet) arm ist, der bekommt 60 Euro Strafe aufgebrummt, weil er zum Vorstellungsgespräch schwarz gefahren ist. Wer arm ist, kann für die 3,30 Euro je Fahrt, Nudeln (0,69 Cent), Apfelmus (0,69 Cent), 2 Flaschen Wasser (0,90 Cent) und billiges Graubrot für 0,99 Cent kaufen. Mal überlegen, was ich mache, wenn ich noch 3,30 Euro und Kinder mit Hunger habe?


Museen (10 bis 12 Euro), Kino (wenn es ganz günstig kommt, für 7 Euro je Person), Schwimmen (billigst 4 Euro Eintritt je Person) oder gar Freizeitbad (ab 12 Euro Eintritt für zwei Stunden je Person aufwärts plus Nahverkehrskosten versteht sich) sind als armer Mensch so weit weg, wie für den Durchschnittsverdiener die Malediven.


Für die Rente oder gar eine Zusatzversicherung etwas zurück legen, ist utopisch, denn bevor man auch nur 20 Euro im Sparschwein hat, muss der Nachwuchs seine Klassenfahrt bezahlen oder die Waschmaschine repariert werden.


Wer arm ist, ernährt sich nicht ökologisch nachhaltig oder gar gesund, wie denn auch? Knapp 500 Euro im Monat, von denen noch Strom, Wasser und Internet abgezogen werden, sind nicht römische Dekadenz auf Staatskosten, sondern „Survival training“ ohne Werbepause – ein Leben lang. Nicht mal im Müll darf man wühlen, denn in Deutschland ist, im Gegensatz zu Italien, Mundraub und Containern (in Abfallcontainern von Supermärkten nach Essbarem suchen) strafbar.


Wer arm ist, greift nach jedem Funken Hoffnung, arbeitet schwarz und ohne Vertrag, weil ihn sonst keiner nimmt, weil er ja für Offizielles oft zu unqualifiziert oder zu alt ist. Deshalb lassen sich arme Menschen auf jeden Scheiß ein und werden häufig komplett ausgenutzt. Who cares? Er kann sich ja nicht beschweren.


Foto: Ulf Muenstermann