Aller internationalen Appelle zum Trotz ist in der Ukraine keine Feuerpause anlässlich des orthodoxen Osterfests in Sicht. Für die seit Wochen in Mariupol eingekesselten Menschen gab es am Samstag dennoch einen Hoffnungsschimmer: Wie die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk mitteilte, sollte ein neuer Versuch zur Rettung von Zivilisten über einen Fluchtkorridor unternommen werden. Während Moskau angibt, Mariupol "befreit" zu haben, bleibt die Hafenstadt laut Kiew umkämpft.
"Wir werden heute erneut versuchen, Frauen, Kinder und Senioren in Sicherheit zu bringen", erklärte Wereschtschuk. Geplant war demnach, dass die Evakuierungsaktion in Richtung Saporischschja gegen Mittag beginnen sollte. In der Vergangenheit waren mehrere Versuche, Fluchtkorridore für Zivilisten aus Mariupol zu öffnen, gescheitert.
Das am Asowschen Meer gelegene Mariupol mit einst 450.000 Einwohnern gilt strategisch als äußerst bedeutsam. Der russische General Rustam Minnekajew hatte am Freitag erklärt, die Aufgabe der russischen Armee in der "zweiten Phase" des Konfliktes sei es, "die vollständige Kontrolle über den Donbass und die Südukraine" zu erreichen.
Ziel sei die Schaffung einer Landverbindung zur annektierten Krim sowie zu der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region Transnistrien in Moldau, sagte Minnejakew. Mit Blick auf Transnistrien sprach er von einer angeblichen "Unterdrückung" der dortigen russischsprachigen Bevölkerung.
Die Äußerungen lösten in Moldau Unruhe aus. Das Außenministerium in Chisinau bestellte den russischen Botschafter ein und forderte Moskau zum Respekt der "territorialen Souveränität" und "Neutralität" des Landes auf.
International besteht die Befürchtung, dass sich der Ukraine-Krieg auf die ehemalige Sowjetrepublik Moldau ausweiten könnte. Die Regierung in Chisinau ist pro-westlich ausgerichtet und strebt wie Kiew eine EU-Mitgliedschaft an. Die Invasion in der Ukraine hatte Moskau unter anderem auch mit der angeblichen Unterdrückung russischsprachiger Menschen im Donbass begründet.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mahnte in seiner Videobotschaft am Freitagabend, die Äußerungen Minnekajews ernst zu nehmen: "Dies bestätigt, was ich bereits mehrfach gesagt habe: Die russische Invasion der Ukraine ist nur als Anfang gedacht."
Nach Angaben Kiews kommt die russische Armee aber langsamer voran als gedacht. Der Gouverneur der Region Charkiw, Oleh Sinehubow, erklärte am Samstag, den ukrainischen Truppen sei es nach "erbitterten Kämpfen" gelungen, die nahe der russischen Grenze gelegenen Orte Besruki, Slatine und Prudjanka zurückzuerobern.
Anders als von Moskau angegeben befindet sich nach ukrainischen Angaben auch Mariupol weiterhin nicht unter russischer Kontrolle. Präsidialberater Oleksij Arestowytsch zufolge erneuerte die russische Armee am Samstag ihre Luftangriffe auf das Stahlwerk in der Stadt, in dem sich hunderte ukrainische Kämpfer verschanzt haben. "Trotz ihrer schwierigen Situation halten unsere Verteidiger stand und führen sogar Gegenangriffe aus", erklärte Arestowytsch auf Telegram.
Russland hat die ukrainischen Kämpfer wiederholt zur Kapitulation aufgefordert. Auf dem Industriegelände des Konzerns Asow-Stahl sollen sich auch hunderte Zivilisten befinden, die kaum Zugang zu Wasser oder Nahrung haben. Das nationalistische ukrainische Asow-Bataillon veröffentlichte am Samstag ein neues Video, auf dem dutzende Frauen und Kinder in den Kellern der Anlage zu sehen waren.
EU-Ratspräsident Charles Michel appellierte in einem Telefonat mit Kreml-Chef Wladimir Putin am Freitag, humanitäre Zugänge zu Mariupol zu ermöglichen. Zudem müsse es sichere Fluchtkorridore für die Menschen aus Mariupol und anderen belagerten Städten geben, twitterte Michel.
Unterdessen gingen die russischen Angriffe auch im Donbass weiter. Das nur 14 Kilometer von den russischen Stellungen entfernte Dorf Lysytschansk glich am Wochenende einem Geisterort, nach der Bombardierung eines Lebensmittelmarkts war dort nur noch ein kleines Geschäft in Betrieb.
Ununterbrochene Angriffe meldeten auch die ukrainischen Behörden in der Region Luhansk. Während Gouverneur Serhij Gajdaj die Menschen dazu aufrief, sich über Fluchtkorridore in Sicherheit zu bringen, harrten Ärzte, Pfleger und Freiwillige im vom Krieg gezeichneten Krankenhaus von Sewerodonezk aus. "Wir werden bis zum letzten Patienten hier bleiben", versicherte Direktor Roman Wodjanik.
isd/lan
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