Bislang ist es der ukrainischen Artillerie gelungen, den Vormarsch der russischen Truppen im Osten des Landes einzudämmen. Doch Michailo ist das inzwischen fast egal. "Man stirbt nur einmal", sagt er, während er in einem Keller darauf wartet, dass der Krieg vorübergeht oder er von einer der Granaten getötet wird, die ununterbrochen auf seine Stadt niedergehen.
Wer nach Rubischne will, muss eine Reihe ukrainischer Kontrollposten passieren. Dann wartet der Schock: Ausnahmslos jedes Gebäude der vor der russischen Invasion 60.000 Einwohner zählenden Kleinstadt in der Region Luhansk ist von dem russischen Dauerbeschuss gezeichnet. Die Häuser sind im besten Fall beschädigt, im schlimmsten Fall Ruinen - klaffende Lücken legen wie in Puppenhäusern das Innere von Wohnungen frei. Die Straßen sind mit Kratern übersät.
Nur wenige Menschen harren in dieser Trümmerwüste noch aus. Wie auch in den anderen Orten entlang der Front sind es vor allem die Schwächsten, die nicht mehr fliehen können.
In einem Keller auf der Höhe des einzigen Kreisverkehrs im Süden von Rubischne sind es genau zwölf Bewohner, die dem Bombenteppich noch trotzen. Zu ihnen gehört Michailo, der sich eine kurze Zigarettenpause gönnt, bevor er in seinen zerschlissenen Sandalen in die unterirdischen Schutzräume zurückkehrt.
Der erste Raum in diesem düsteren Labyrinth wird von einer gebastelten Öllampe erhellt, aus einem knisternden Radio klingt "You're in the Army Now". Der Song, den die britische Band Status Quo berühmt gemacht hat, ist heute der Klassiker aller jungen Rekruten weltweit.
Im Nebenraum scheint eine Kerze auf die Gesichter von sechs alten Menschen auf kargen Feldbetten. Wie die meisten anderen noch verbliebenen Einwohner von Rubischne "konnten sie nirgendwo anders hin", sagt Ljudmila.
Die 63-Jährige lebt seit dem 15. März mit ihrer Mutter in dem Keller. "Sie wird im August 90 Jahre, und ich kann sie ja nicht einfach zum Auto schleppen und mit ihr wegfahren", sagt sie. Die Greisin weigert sich, ihren Verschlag zu verlassen, seit Wochen durchlebt sie wieder ihre alten Ängste aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Ljudmila ist mit ihren Nerven am Ende. Während ihre Mutter immer wieder "Ich will in mein Haus" wimmert, lädt die 63-Jährige voller Bitterkeit "alle, die diesen Krieg begonnen haben" in ihre dunkle Unterkunft ein. "Sie sollen kommen, den Bombenangriffen zuhören und bei Kerzenlicht sitzen", dann würden sie vielleicht zur Einsicht kommen "und endlich eine Entscheidung treffen", sagt sie.
Wie Ljudmilas Mutter findet sich auch Juri Fomin mit der neuen Realität von Rubischne nicht zurecht. Verloren irrt der 62-jährige Ingenieur durch die leeren Flure des Kulturpalasts, in der Hand einen polnischen Roman und einen Stift. "Als ich ein Kind war, kam ich jeden Tag hierher, entweder ging ich ins Kino oder lieh mir ein Buch aus", erzählt er versonnen.
Heute ist das prächtige Gebäude ebenfalls ein Trümmerfeld: Die Leinwand des alten Kinosaals hängt in Fetzen, der Prunkleuchter im Festsaal liegt zerschellt auf dem Boden. In umgestürzten Schränken hängen noch die Kostüme für die Kindervorstellungen.
Er sei auf diesen Krieg nicht vorbereitet gewesen, sagt Fomin. Nun habe er ständig das Gefühl, in einer "Parallelwelt" zu leben. Aber es sei die Realität, geschaffen von dem "kranken Gehirn" von Kremlchef Wladimir Putin.
Michailo ist es inzwischen völlig egal, wer gewinnt: "Dieser Krieg muss so schnell wie möglich enden", findet er. Und was sagt er dem ersten russischen Soldaten, dem er begegnet? Michailo lacht, dann witzelt er: "Hallo, haben Sie eine Zigarette für mich?"
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Daphne ROUSSEAU / © Agence France-Presse