Bulletin 50-1
"Wir sind heute hier zusammengekommen, um eine Kabinettsumbildung zu vollziehen, gemäß dem Verfahren, das unsere Verfassung vorsieht: „Die Bundesminister“, heißt es in Artikel 64 des Grundgesetzes, „werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen.“
Liebe Frau Spiegel, als Sie kurz vor Weihnachten Ihr neues Amt als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend antraten, waren Sie voller Leidenschaft und Tatendrang, das konnte man Ihnen auch hier im Schloss anmerken, bei der Ernennung des Kabinetts. In einem Zeitungsinterview haben Sie damals gesagt: „Ich habe eine klare Haltung, ich brenne für meine Themen.“ Das klang ein bisschen wie die moderne Fassung jener „leidenschaftlichen Hingabe an eine ‚Sache“, die Max Weber von Menschen in politischer Verantwortung verlangte.
Als Politikerin und Frau war es Ihnen ein Herzensanliegen, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern abzubauen und Frauen besser vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen. Vor allem wollten Sie das Familienrecht modernisieren, um alleinerziehende Mütter oder Väter, Patchworkfamilien oder gleichgeschlechtliche Eltern besser zu unterstützen. Sie hatten sich viel vorgenommen für Ihr neues Ministeramt.
Liebe Frau Spiegel, die Erklärung, die Sie einen Tag vor Ihrem Rücktritt abgegeben haben, hat vielen Menschen in unserem Land vor Augen geführt, dass die Verantwortung für ein hohes politisches Amt und die Verantwortung für die eigene Familie oft nur schwer miteinander zu vereinbaren sind.
Sie haben Fehler eingestanden, die Sie als Umweltministerin von Rheinland-Pfalz nach der Flutkatastrophe im Ahrtal gemacht haben und in Ihrer Erklärung eingeräumt, falsche Angaben gemacht zu haben. Und Sie haben den schweren Schritt getan, die Konsequenzen gezogen und sind als Bundesministerin zurückgetreten. Dafür gebührt Ihnen Respekt.
Ich finde es wichtig, dass wir in Politik und Gesellschaft weiter darüber diskutieren, wie wir Erwerbs- und Sorgearbeit besser in Einklang bringen können. Und ich finde es wichtig, dass wir diese Debatte offen und ehrlich führen, in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Mütter und Väter auch über Schwierigkeiten und Überforderungen sprechen können, ohne befürchten zu müssen, als schwach oder gescheitert abgestempelt zu werden. Die Erwartungshaltung, dass Beruf und Familie immer, überall und für alle vereinbar sein oder vereinbar gemacht werden müssen, baut da oft genug Druck auf, wo Nachsicht, Mitgefühl und pragmatische Lösungen gefragt wären.
Noch etwas ist mir heute wichtig: Unsere Demokratie lebt von Debatten, die sich an Fakten orientieren und mit Argumenten geführt werden. Sie lebt von harter Auseinandersetzung in der Sache, zugleich aber von Fairness und Respekt im persönlichen Umgang. Wir brauchen eine politische Kultur, die von Fairness und Respekt geprägt ist, damit engagierte Menschen bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen. Und es stärkt unsere Demokratie, wenn auch Bürgerinnen und Bürger für Ämter und Mandate kandidieren, die in ihrem privaten Leben Verantwortung für Familie und nahe Menschen übernehmen.
Liebe Frau Spiegel, ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie, dass Sie jetzt etwas Abstand gewinnen können, um neue Kraft zu schöpfen und gemeinsam einen guten Weg für sich zu finden. Ich wünsche mir und unserem Land, dass Sie sich weiterhin mutig und entschlossen für Ihre Themen engagieren. Und ich danke Ihnen für das, was Sie als Bundesministerin auf den Weg bringen konnten. Ihnen alles Gute und einen herzlichen Dank!
Liebe Frau Paus, Sie stammen aus dem Münsterland, haben hier in Berlin an der Freien Universität Volkswirtschaft und Politikwissenschaft studiert und sich für Ihre Partei viele Jahre in der Berliner Landespolitik engagiert. Im Deutschen Bundestag, dem Sie seit 2009 angehören, haben Sie sich den guten Ruf einer versierten Finanz- und Wirtschaftspolitikerin erarbeitet, die nicht zuletzt das Konzept der Grundsicherung für Kinder mitentworfen und durchgerechnet hat. Als Bundesfamilienministerin sind Sie nun gefordert, dieses große und komplexe Vorhaben der Koalition ins Werk zu setzen.
Wenn man Ihr vielfältiges Engagement in der Landes- und Bundespolitik auf eine Formel bringen wollte, dann könnte man sagen: Sie haben immer für eine gerechtere Gesellschaft gestritten, ob es um Fragen der Steuerpolitik ging, um bezahlbaren Wohnraum oder die Belange von Alleinerziehenden.
Ich bin mir sicher, dieses Kernanliegen nehmen Sie mit ins neue Amt. Denn wir wissen ja, die Coronakrise hat viele Familien, Kinder, Jugendliche und alte Menschen besonders hart getroffen. Und sie hat viele Probleme, die es auch vorher schon gab, verschärft oder erst ins öffentliche Bewusstsein gehoben; ich denke nur an die Benachteiligung von Kindern aus armen Familien oder das erschreckende Ausmaß an häuslicher Gewalt. Viele Kinder und Jugendliche haben heute den Eindruck, dass ihre Anliegen nicht ausreichend gehört, gesehen oder ernst genommen werden. Ich freue mich, dass Sie, liebe Frau Paus, neue Wege der Beteiligung und Mitbestimmung öffnen wollen, um junge Menschen stärker in die Politik einzubeziehen und sie für die liberale Demokratie zu gewinnen.
Auch die Folgen des menschenverachtenden Angriffskriegs, den Putins Russland gegen die Ukraine führt, stellen Ihr Ressort vor neue Herausforderungen. Es sind vor allem alte Menschen, Frauen und Kinder, die aus ihrer umkämpften Heimat fliehen und bei uns Zuflucht suchen. Und es braucht eine ordnende Kraft, die dafür sorgt, dass sie alle sicher untergebracht, versorgt und betreut werden können, dass nicht zuletzt Überlebende des Holocaust aus der Ukraine in Deutschland Schutz finden.
Liebe Frau Paus, für all diese großen Aufgaben brauchen wir jetzt Ihre politische Erfahrung, Ihre Entschlossenheit und Ihre Einsatzfreude. Ich gratuliere zum neuen Amt und wünsche Ihnen viel Erfolg, gutes Gelingen und eine glückliche Hand!"
Die Bundesregierung
Bild: Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, offizielles Porträt. / Bundesregierung / Steffen Kugler