In unserer Interviewreihe zur Landtagswahl in NRW 2022 ist heute der FDP-Spitzenkandidat Maximilian Kemler im Gespräch.
Guthier (stadt40): Unser ehemaliger Ministerpräsident des Landes NRW, Armin Laschet, sagte „Kein Land tut so viel für den Klimaschutz wie NRW.“ Was planen Sie konkret, um aktiv den Klimaschutz im Land NRW zu fördern?
Kemler (FDP): Grundsätzlich ist die Aussage von Armin Laschet natürlich erst einmal richtig; kein Bundesland von einer relevanten Größe wie NRW hat es so gut geschafft, seine Klimaziele zu erreichen. Und dies lag nicht daran, dass die Ziele niedrig gesetzt gewesen wären – auch wenn Fridays for Future etwas anderes behaupten würde.
Bei der Frage Klimaschutz, gibt es zwei wichtige Fragen, denen wir uns stellen müssen.
Die erste Frage lautet: Wie erzeugen wir Energie? Wir müssen einen stärkeren Ausbau von Windkraft, Energie und der Photovoltaik vorantreiben. Bei der Windkraft wird zwar gerne über die 1000 Meter Grenzen gestritten. Gerade im Münsterland zum Beispiel übersteigen wir die Grenze, also die zwei Prozent, die angestrebt sind. Da sind wir bei Zwei- Komma- drei Prozent. Das heißt, das ist bei uns im Münsterland kein Hindernis. Photovoltaik ist, glaube ich, das größere Thema, an dem wir noch viel, viel mehr Gas geben müssten.
Die zweite Frage, der wir uns widmen müssen, bezieht sich auf das unglaubliche Investitionsvolumen, das wir für die energetische Sanierung brauchen. Bei der Energievermeidung und dem Energieverbrauch habe ich das Gefühl, dass das politisch noch nicht so richtig angekommen ist. Beispiel: in Münster haben wir jetzt vor kurzem eine Vorlage gehabt, 45 Gebäude der Stadt, Schwimmbäder und Schulen energetisch zu sanieren. Hierfür hätten wir 345 Millionen Euro gebraucht. Diesem Energieverbrauch und der Energievermeidung würde ich mich gerne widmen wollen, falls ich in den Landtag gewählt werden würde. Bei der Frage Windkraft und Fotovoltaik sind wir uns innerhalb der demokratischen Parteien ehrlicherweise einig. Aber bei der energetischen Sanierung habe ich das Gefühl, da ist bei der einen oder anderen Partei noch ein ziemlicher Blind-Spot.
Guthier (stadt40): Das Oberverwaltungsgericht Münster hat gerade eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen gegen die Einwände von AnwohnerInnen, Braunkohle an ihrem Standort abzubauen, bestätigt. Nach der Einschätzung der Gerichte ist die Braunkohle mit den Klimaschutzzielen der Verfassung vereinbar. Wie stehen Sie zu dieser Entscheidung? Muss sich die Gesetzgebung ändern? Wie passt das in die heutige Zeit, nachdem wir im vergangenen Jahr die Folgen des Klimawandels auch vor Ort gespürt haben?
Kemler (FDP): Als aktuell ehrenamtlicher Politiker, tue ich mich schwer damit, Gerichtsurteile zu kommentieren und zu sagen, ob ein Gericht eine schlechte Entscheidung getroffen hat. Trotzdem stehe ich zu dem Punkt: Wir müssen weg vom Kohleabbau! Wir sollten uns nicht der Frage widmen. Wie formulieren wir Gesetze, um um Gerichte herum zu arbeiten? Sondern: Wie können wir das ganze Thema ad acta legen? Deswegen finde ich es unglaublich wichtig - und da muss man auch respektvoll sagen, dass Robert Habeck als grüner Wirtschaftsminister sehr stark und sehr genau darüber nachdenkt - welche Brückentechnologie wir eben besonders in der jetzigen Situation benötigen, die unsere Erde so wenig wie möglich angreift. Ich finde es von Habeck gut beschrieben: wir hinterlassen, so wie wir aktuell leben und wie wir unseren Energieverbrauch gestalten, ein Land der Verwüstung.
Guthier (stadt40): Wir spüren den Klimawandel auch schon vor Ort. Welche Konzepte haben Sie, um den Geschädigten im Ahrtal unbürokratische Hilfe zur Verfügung zu stellen?
Kemler (FDP): Das Land NRW hat es sehr gut, sehr unbürokratisch und sehr schnell geschafft, die Hilfen auf den Weg zu bringen. Ein häufiges Problem bei solchen Naturkatastrophen ist, dass man leider erst ein dreiviertel Jahr später erkennt, wo die Probleme gewesen sind. Zum Beispiel, wo kam das Geld jetzt nicht schnell genug an? Das muss natürlich nachjustiert werden. Wenn wir uns mal ins Auto setzen und ins Ahrtal fahren, da sieht es nicht viel besser aus als noch vor einem Jahr. Und trotzdem ist das Ahrtal etwas in Vergessenheit geraten, da das Thema Ukraine verständlicherweise alles überlagert. Die Hilfen sind da, sie sind auch weiter noch geöffnet. Die Fristen laufen auch noch länger. Das heißt, weiterhin können Menschen immer noch Schäden geltend machen und die Hilfen beantragen. Aber ich wäre nicht FDP - ler, wenn ich am Ende sagen würde, das geht bestimmt auch mit drei Formularen weniger.
Guthier (stadt40): Widmen wir uns mal der Ukraine. Außenpolitik ist keine Landespolitik, aber was ist Ihrer Meinung nach der beste Umgang mit dem Krieg in der Ostukraine? Was verlangen Sie dahingehend von der Bundesregierung?
Kemler (FDP): Ja, es ist kein Landesthemen, aber natürlich sind wir alle in der Verantwortung. Einerseits lässt sich über die Kriegshandlung sprechen, aber vor allem haben wir eine moralische Verantwortung der Ukraine gegenüber, dass wir (a) der Ukraine die Möglichkeit geben, sich selbst zu verteidigen, zum Beispiel durch Waffenlieferungen und (b) dass wir uns auch der humanitären Verantwortung bewusst werden.
Aber auch, dass wir uns mit den Nachbarstaaten wie zum Beispiel Polen, die Hilfe bieten, damit sie die Geflüchteten auch aufnehmen können. Gerade in Münster haben wir frühzeitig und parteiübergreifend - mit Ausnahme leider Gottes, der Linkspartei - solidarisiert und klar und deutlich gemacht, dass wir zu unserer Partnerstadt stehen und dass wir auch helfen wollen.
Wir nehmen Geflüchtete ohne Probleme auf und das scheint gesellschaftlich kein Problem zu sein. Was ich mir von der Bundesregierung wünsche, vornehmlich vom Bundeskanzler, ist mehr Schnelligkeit. Auch in der Politik sehen wir das Knirschen in der Bundesregierung mit Marie-Agnes Strack Zimmermann mit Anton Hofreiter, mit Michael Roth irgendwo.
Das Kanzleramt scheint größere Bedenken zu haben. Aber der Druck auch in der Öffentlichkeit der letzten Woche hat, glaube ich, viel geholfen. Wenn wir es nicht schaffen, Kriegsgerät an die Ukraine zu liefern, dann müssen wir wenigstens das Geld zur Verfügung stellen, damit sie das Kriegsgerät schnellstmöglich aus anderen Nachbarstaaten erhalten können. Allerdings hat man die ganze Zeit das Gefühl bekommen, dass aus dem Kanzleramt besonders Entscheidungen zu spät getroffen werden. Die Entscheidung, zum Beispiel der Niederlande die Möglichkeit zu bieten, Kriegsgeräte über deutsches Gebiet zu transportieren ist an sich richtig. Ich wünsche mir bloß mehr Schnelligkeit.
Guthier (stadt40): Wie möchten Sie es den ankommenden ukrainischen Geflüchteten ermöglichen, hier Fuß zu fassen? Gibt es genügend Unterkünfte für die Flüchtlinge? Was planen Sie, um genügend Unterbringung zu schaffen – gerade auch im Land NRW?
Kemler (FDP): Dort liegt glaube ich, auch wieder eine Diskrepanz zwischen Münster und NRW. Münster ist in der Frage fast schon ein gesegnetes Land mit unserem dezentralen System der Flüchtlingsunterkünfte. Wir haben auch genügend Plätze und trotzdem werden sie auch noch mal mehr aufgestockt. Ich habe da großes Vertrauen in unsere Sozialdezernentin Cornelia Wilkens, dass das gut funktioniert.
Für NRW gilt die Schlüsselfrage: Wie werden die Flüchtlinge verteilt? Wo werden sie hinkommen? Es ist aber ganz elementar. Wir haben einen großen Vorteil zu den vorherigen Flüchtlingswellen in den letzten Jahren. Wenn Sie psychisch und körperlich in der Lage dazu sind, können sie arbeiten, was ihnen eine gewisse Struktur bietet und ein schnelleres Ankommen möglich macht.
Wir müssen zudem darauf achten, für Diejenigen, die unter so einer starken psychischen Belastung sind, dass wir die so gut wie möglich betreuen und aufnehmen. Das heißt, es geht nicht nur um die Platzvergabe von Menschen, wenn man das mal so ganz nüchtern sagt, sondern es geht auch und vor allem um die Betreuung dieser Menschen. Das heißt auch, in die Kitas müssen Kinder möglichst schnell aufgenommen werden. Also brauchen wir Kinderbetreuung, psychische Hilfe für diejenigen die sie brauchen und schnelle Anschlussfähigkeit für diejenigen die arbeitsfähig und - willig sind. Hier geht es mir nicht um die Wirtschaftsleistung, sondern um die Tagesstruktur der Flüchtlinge. Was aktuell noch gar nicht zu überblicken für uns ist, ist natürlich die Frage, wie viele kommen tatsächlich nach Deutschland? Ich glaube, wir sind aufnahmefähig und aufnahmewillig. Und das würde ich von politischer Seite aus auch immer versuchen zu unterstützen.
Guthier (stadt40): Verständlicherweise werden Gegenstimmen laut, dass People of Color in manchen Ländern nicht aufgenommen wurden oder dass Geflüchtete mit arabischer Herkunft ihren Platz in Deutschkursen zugunsten von ukrainischen Geflüchteten verloren haben. Sehen Sie da auch hier eine Problematik, dass Geflüchtete unterschiedlicher Hautfarbe unterschiedlich von den Behörden behandelt werden? Wie möchten Sie die Rechte aller Geflüchteten und nicht nur der ukrainischen Geflüchteten sicherstellen?
Kemler (FDP): Bei uns gibt es keine Unterscheidung über Ethnie, Religion und so weiter. Es kommt ein Geflüchteter zu uns, der hat einen Flüchtlingsstatus, und der wird aufgenommen und versorgt. Vollkommen irrelevant, welche Hautfarbe oder Religion er hat. Aber natürlich haben wir auch diese Geschichten wahrgenommen, an der polnischen Grenze und anderen Grenzen, dass Menschen nicht aufgenommen wurden. Das ist eine Vollkatastrophe. Da sehe ich auch besonders die EU in der Verantwortung, da dort ein systematisches Problem zu liegen scheint. Leider Gottes haben wir hier in Deutschland auch immer noch den Fall, dass Menschen, also PoC oder BPoC die leider Gottes nicht so aufgenommen werden wie vielleicht der, sag ich mal, der vielleicht leichter in unsere Mehrheitsgesellschaft reinpasst und aussieht als wir beide. Das finde ich sehr, sehr bescheiden. Wir müssen unterscheiden zwischen einer Frage systemischen und menschlichen Versagens. Ich glaube, in Deutschland haben wir, vor allem wenn solche Fälle aufkommen, ein menschliches Versagen. Das sieht man auch immer wieder bei der Frage, wie Menschen ausgewiesen werden. Wo unser stellvertretender Ministerpräsident Joachim Stamp immer wieder plötzlich einschreiten muss, weil man hört, dass irgendjemand plötzlich abgeschoben wird, weil er sich nur einen Verlängerungs- Schein holen wollte beim Amt. Und plötzlich ist er schon gefühlt im Bulli auf dem Weg zum Flughafen. Und da muss dann der stellvertretende Ministerpräsident sagen: „Moment, stopp! Ich habe gesagt, gut integrierte Menschen sollen nicht abgeschoben werden. Habt ihr mich eigentlich gehört?“ Das geht gar nicht. Jeder, jede einzelne Person, die das betrifft, ist hier eine Person zu viel.
Zum Thema Antidiskriminierung muss viel mehr gemacht werden. Was ein wichtiger Punkt ist, ist, dass die Landesregierung Karl Peter Brendel eingestellt hat, der dem Ministerium von Stamp untersteht und dafür zuständig ist, die Beschwerden von Geflüchteten aus Unterkünften direkt anzunehmen. Für den Fall der Fälle, dass menschliches Versagen vorliegt und diese Beratungsstelle, die mehr ist als einfach nur ein Kummerkasten, sondern auch mit entsprechenden Mitteln ausgestattet ist, war ein wichtiger Punkt, ein wichtiges Learning aus den Jahren 2015/16.
Guthier (stadt40): Im Zuge des Ukraine-Kriegs explodieren die Gas- und Ölpreise momentan. Wie möchten Sie erreichen, dass Öl und Gas bezahlbar für alle BürgerInnen bleiben?
Kemler (FDP): Der Zyniker in mir würde sagen: „der Markt regelt an dieser Stelle“. Aber das tut er leider nicht, weil der Energieversorgungsmarkt kein klarer Markt ist. Nein, die wichtigste Aufgabe ist, das Angebot zu schärfen und mal zu schauen, wie wir mit LNG etc. umgehen. D.h. die Versorgung muss einfach gewährleistet werden. Der Wirtschaftsminister Robert Habeck, finde ich, hat das alles sehr gut beschrieben: EEG -Abschaffung oder auch Eingriffe in den Markt, zum Beispiel durch Erleichterungen für Haushalte. Wir müssen besonders auf die schauen, die jetzt schon mit dem Existenzminimum leben müssen, denn für die bedeutet natürlich ein Anstieg bei den Energiepreisen, direkt ein riesiges Haushaltsloch. Und deswegen finde ich es, wenn ich das noch als Einschub machen kann, vermessen von Altbundespräsident Gauck zu sagen, dann schalten wir halt den Heizkörper auf 17 Grad runter, und wir frieren mal für die Freiheit. Ich glaube, er vergisst, dass wir leider Gottes Hunderttausende von Menschen in Deutschland haben, die jetzt schon ihren Heizkörper auf 17 Grad runtergedreht haben. Für diese Menschen geht es um die Frage, ob die Heizung nicht auf 14 oder 15 Grad gedreht werden müsste.
Zudem sehen wir auch, dass es mittlerweile die Menschen in der Mitte der Gesellschaft trifft. Nicht nur an der Tanke, sondern auch vor allem an den Heizkörpern zu Hause. Und deswegen ist es wichtig, dass wir infrastrukturell ausbauen. Die Diskussion, dass unsere Unternehmen und unsere Haushalte alle gar nicht an dieses Netz gezwungenermaßen angebunden sind, kommt zu kurz.
Das heißt, wir haben ein ganz großes Infrastrukturproblem. Nur weil wir Terminals in Hamburg haben oder in Niederlande, heißt das nicht, dass das in Münster ankommt. Und deswegen liegt die Herausforderung vor allem, dass wir parallel neben den Entlastungen, die absolut notwendig sind, damit die Bürger zu Hause nicht frieren müssen unsere Infrastruktur ausbauen. Wir müssen die auf der sozialen Seite absolut Entlastung schaffen. Auf der zweiten Seite müssen wir infrastrukturell kümmern.
Guthier (stadt40): Wäre es nicht die Gelegenheit, erneuerbare Energien voranzutreiben? Haben Sie dahingegen Ambitionen?
Kemler (FDP): Absolut, absolut. Da gibt es kein Hemmnis von unserer Seite aus. Erneuerbare Energien sind der Schlüssel. Christian Lindner hat sie als Freiheitsenergien bezeichnet, was glaube ich ein kleiner Durchbruch auch in meiner eigenen Partei ist. Ich glaube in der Vergangenheit sind wir nicht groß damit aufgefallen, als die, die die Fahnen für Windkraft schwenken. Aber die Zeit hier in NRW mit Andreas Pinkwart als Wirtschaftsminister hat glaube ich gezeigt, dass wir da einen neuen, Punkt erreicht haben und wir dies auch als FDP so sehen.
Guthier (stadt40): Bezogen auf Münster und die Möglichkeit einer Klimawende gibt es auch hier vor Ort interessante Angelegenheiten, wie zum Beispiel das Thema ÖPNV oder autofreie Innenstädte, über die schon lange diskutiert wird. Wie sehen Ihre Pläne hinsichtlich einer Verkehrswende aus?
Kemler (FDP): Also eigentlich hat der ÖPNV in Münster bei den Kunden eine sehr gute Bewertung. Es ist nicht so, dass wir auf einem schlechten Niveau sind, sondern vor allem müssen wir darüber nachdenken, wie wir dieses weiter ausbauen. Deswegen bin ich auch relativ enttäuscht von dem aktuellen Bündnis aus Grünen, SPD und Volt. Weil wir viel darüber sprechen können, wo Autos zukünftig nicht mehr lang fahren könnten. Aber ehrlicherweise - nach zwei Jahren Bündnis - ist der ÖPNV nicht weiter ausgebaut worden. Das heißt, wenn wir über die Attraktivität des ÖPNV sprechen, müssen wir auch über das Angebot und die Nachfrage sprechen. Und das Angebot muss einfach erhöht werden. Und während andere darüber nachdenken, wie sie an dem Preis rumfummeln, sollten die Stadtwerke ihr Angebot weiter ausbauen. Wir sollten über Metro - Buslinien in Münster reden, oder über die Frage der Weseler Straße, die Fahrstraße oder die Steinfurter Straße sprechen. Die FDP ist nicht prinzipiell der Verfechter dafür, dass alles zweispuriger Autoverkehr sein muss. Vor allem geht es uns darum, dass wir möglich machen müssen, dass die Busse so schnell wie möglich an ihr Ziel kommen und so schnell wie möglich die Menschen mit einfangen können. Der Umstieg vom PKW auf den ÖPNV, so wie uns all die Statistiken und die Gutachten der Stadtwerke verraten, ist nicht über den Preis zu regeln. Der Umstieg wird vor allem übers Angebot gemacht und nicht über den Preis. Außerdem rufen wir die soziale Frage bei der Verteuerung der Parkgebühren nicht auf, auch wenn die kleine Familie sich den Samstag in der Innenstadt nicht mehr leisten kann.
Guthier (stadt40): Wie sieht das mit Autos in Innenstädten aus? Werden diese weiterhin dadurch fahren dürfen?
Kemler (FDP): Die FDP hat im Kommunalwahl - Programm 2020 versucht, den Begriff „autoarme Innenstädte“ zu prägen, diese Prägung ist uns leider nicht gelungen. Also wir sind uns einig darüber, dass der Autoverkehr in Summe natürlich weniger werden muss. Hierbei müssen wir vor allem auf die angrenzenden Pendler schauen. Der aktuelle Ausbau der Mobilitäts -Stationen ist ein Witz – ein Parkplatz mit einer Laterne. Da kann man ja nicht mal sein Fahrrad richtig aufpumpen. Wenn wir es schaffen, das Angebot des ÖPNV weiter auszubauen, so dass wir den Pendlerverkehr zumindest dort reduzieren können, dann schaffen wir schon viel in dieser Innenstadt.
Grundsätzlich zu sagen, dass wir bestimmte Bereiche für PKW schließen, sehen wir ehrlicherweise nicht. Der Individualverkehr ist ein Ausdruck eigener Freiheit. Warum soll ich eigentlich mit meinem Auto zukünftig nicht mehr durch die Innenstadt fahren? Warum soll ich mit meinem E - Auto nicht 150 fahren dürfen? Also diese ganzen Fragen sind immer nur auf Fossil gemünzt. Also ich habe das so verstanden. Zumindest erlebe ich es so in meiner Partei, dass wir alle zukünftig nicht mehr mit fossilen Brennstoffen arbeiten wollen. Deswegen weiß ich nicht, warum wir jetzt die ganze Zeit nur versuchen, neue Gesetze und Regelungen zu erlassen, die ausschließlich darauf abzielen, es gäbe nur fossile Fahrzeuge. Warum ist das ein Problem, dass ich mit dem Tesla am Bild vorbeifahren soll? Das Problem ist nur, dass wir aktuell zu viele Autos haben, die durch den Bült fahren. Und dann ist der Schadstoffausstoß zu hoch, weil wir einfach zu viele PKW haben. Es ist nicht die Lösung, den Bült abzuschließen für den Individualverkehr und ihn zehn Kilometer über den Ring fahren zu lassen. Sondern es ist doch viel sinnvoller zu sagen, wir machen die Angebote so, dass eigentlich die Pendler schon gar nicht mehr mit dem Auto fahren müssen. 50 Autos auf der Straße oder 50 Leute im Bus, dann nehme ich den Bus.
Guthier (stadt40): Wie stehen Sie zu den Anliegergebühren beziehungsweise den Straßenausbaubeiträgen? Sollen diese wieder eingeführt werden? Oder sehen Sie es als sozial gerechtfertigt an, diese für unsere Region auszusetzen?
Kemler (FDP): Zur Frage der Anliegergebühren gibt es zwei Punkte: Das eine ist das Erschließen von Straßen, das andere ist deren Erhalt. Natürlich, wenn man irgendwo ein Haus baut und nur weil dieses Haus existiert, wird ein Stück Straße gebaut. Da macht es Sinn, dass der Anlieger und der Eigentümer daran beteiligt werden. Aber bei der Frage des Erhalts von Straßen kann man das eben nicht so genau zuweisen. Nehmen wir an, jemand kauft ein Haus an der Warendorfer Straße. 30 Jahre lang fährt er mit seinem SUV und macht die Straße jeden Tag mehr kaputt. Nach 30 Jahren verkauft er sein Haus an eine neue Familie. Und plötzlich kriegt die die dicke Quittung. Das ist ungerecht. Es ist auch nicht immer zuzuweisen, dass derjenige, der an einer Straße wohnt, auch derjenige ist, der den Schaden an der Straße verursacht. Es ist eine soziale Frage. Vielleicht nicht auf den ersten, aber auf den zweiten Blick. Wir müssen darüber nachdenken, dass einfach Anlieger und im Zweifel auch Mieter über die Erhöhung der Miete am Ende belastet werden für eine Straßensanierung, für die sie eigentlich gar nichts können. Und wir müssen die Straße als Allgemeingut wahrnehmen. Deswegen ist die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge eine sinnvolle Entlastung.
Guthier (stadt40): Ein großes Münsteraner Thema, aber auch ein deutschlandweites, ist der bezahlbare Wohnraum.
Kemler (FDP): Von hier bis nach Berlin...
Guthier (stadt40): Es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Was sind Ihre konkreten Pläne, diesem Problem Herr zu werden, hier spezifisch in Münster?
Kemler (FDP): Hier spezifisch in Münster gibt es für mich drei elementare Punkte:
Das ist erstens die Nachverdichtung, über die viel gesprochen wird, aber die man auch tatsächlich mal machen muss. Beispiel, vor kurzem gab es die Möglichkeit, am Bahnhof die Möglichkeit zu schaffen, höher zu bauen. Das wurde vom Bündnis abgelehnt. Zwar sagt jeder Architekt, dass Hochpunkte für eine Stadt sinnvoll sind, aber für das Bündnis ist das ganz schlimm. Das hätte man gut schaffen können. Nicht nur Büroräume, sondern vor allem auch Wohnraum in Bahnhofsnähe schaffen zu können, der auch den Preis entsprechend gedämpft hätte. Wir sind, glaube ich nach Köln die zweitgrößte Stadt, wenn man auf die Fläche schaut, haben aber erheblich weniger Einwohner als Köln.
Das Zweite betrifft die Baulücken. Also wir haben Zuschnitte von Grundstücken, die heutzutage gar nicht mehr erstrebenswert sind. Aber wir haben große Grundstücke, wo noch ein Schuppen hinten dran ist, der schon seit 20, 30 Jahren nicht mehr benutzt wird und wo man mit den Eigentümern sprechen kann
Und der dritte Punkt, der mir auch noch mal wichtig ist: das Land NRW hat ja glücklicherweise entschieden, dass vor allem in der Nähe von Universitäten die Möglichkeit besteht, Landesflächen sehr günstig abzugeben, um dort den Bau von Wohnheimen zu ermöglichen. Das heißt, der Druck, der besonders in Münster entsteht, entsteht wesentlich wegen der Studenten. Das heißt, da wird Abhilfe geleistet.
Wir sollten aber auch nicht die Chance verpassen, für Familien kostengünstigen Wohnraum zu schaffen. Für mich ein Beispiel: wir haben aktuell eine alte Dame, die irgendwo im Viertel wohnt auf über 100 Quadratmetern. Irgendwann lebt die Dame nicht mehr – ich wünsche ihr alles Gute – und der Eigentümer steht vor der Wahl, aus dieser 100- Quadratmeter - Wohnung wieder einen Wohnraum zu machen, der einer Familie zugeführt wird. Für ihn ist es günstiger und sinnvoller, die Wohnung zu dritteln und diese drei mal 30 Quadratmeter an Studenten zu vermieten. Das ist ein Riesenproblem. Ich möchte auch, dass in der Innenstadt die Möglichkeit besteht, kostengünstig für Familien Wohnraum zu schaffen, deswegen müssen wir vor allem über die Nachverdichtung sehr intelligent nachdenken. Baulücken müssen geschlossen werden und das Land NRW schafft natürlich Abhilfe, vor allem im studentischen Bereich. Wir sollten auch nicht den Blick auf Auszubildende verlieren, diese werden häufig bei der Frage vergessen. Also beim Thema Wohnheime für Auszubildende bin ich absoluter Fan.
Für mich sind das drei elementare Teile, die auch viel wertvoller sind als die Mietpreisbremse, die natürlich am Ende kein Angebot schafft, wie wir aus Berlin ja auch mittlerweile wissen.
Guthier (stadt40): Wie ist Ihre Haltung zum Musikcampus?
Kemler (FDP): Ich muss dazu erwähnen, dass ich Fraktionsgeschäftsführer bin, also bin ich befangen. Der Musik - Campus kann ein kulturell sehr wertvolles Projekt sein für Münster. Aber wir müssen uns auch bei den Herausforderungen, über die wir bisher schon gesprochen haben, klar machen, was das für die Stadt Münster bedeutet. Gerade die Investition in einen Konzertsaal ist dabei sehr kritisch zu betrachten. Wir haben also ein kulturell eventuell wertvolles Projekt, das auf finanziell sehr, sehr wackligen Beinen steht. Deswegen hat sich unsere Fraktion zu Recht sehr frühzeitig auf den Weg gemacht, ein Finanzierungskonzept zu erarbeiten, dass es für die Stadt überhaupt realisierbar macht, weitere Schritte einzugehen. Also über die Frage der Drittmittel, der Akquise für den Kulturbau, über die Frage: Wie hoch liegt der städtische Anteil? Wir haben jetzt schon 55 Millionen im Haushalt stehen. Der Anteil soll erhöht werden auf über 70 Millionen. Gleichzeitig wird uns ein Haushalt vorgelegt, in dem es in der mittelfristigen Finanzplanung langsam dunkel wird, also das Jahr 2025/26 kann man da schon fast gar nicht mehr erkennen. Und wir reden über energetische Sanierung und 45 Millionen Euro für 45 Gebäude bei der Stadt Münster. Wir reden über den Ausbau der Infrastruktur. Wir sind zuständig für unsere Schulen, das heißt, der Breitbandausbau, der nur bis zur Bordsteinkante geht, hilft uns nicht. Der muss bis in die Schulen reingehen... Und dann muss man einfach am Ende eine klare, harte Entscheidung treffen. Wir begrüßen, dass wir über den Musik- Campus nicht nur nachdenken, sondern dass ja auch weiter geplant wird. Aber wir wollen sagen können: Okay, es ist nicht umsetzbar. Wir haben Zielkonflikte. Uns ist Wohnraum und Bildung am Ende wichtiger als dieses Prestigeprojekt.
Guthier (FDP): Haben Sie Pläne bezüglich der Bildungspolitik? Was möchten sie hinsichtlich dieser verbessern?
Kemler (FDP): Wir haben in dieser jetzt ablaufenden Periode, natürlich auch aufgrund der Corona Pandemie, sehr viel Geld mit dem Digitalpakt investiert, um vor allem die digitale Ausstattung zu schaffen. Wie ich gerade schon gesagt habe: Breitbandausbau ist natürlich auch ein elementares Thema und das darf nicht an der Bordsteinkante aufhören. Bevor ich auf den fachlichen Teil komme: Wir müssen es schaffen viel schneller zu handeln! Beispiel, in der Corona -Pandemie wurde sehr viel Geld frühzeitig bereitgestellt. Die Schecks konnten in Düsseldorf abgeholt werden, wurden sie aber nicht, da es strukturell noch nicht möglich, oder von der Bezirksregierung nicht gewollt war. Dann kam das Thema Luftfilter auf und Hausmeister wurden damit beauftragt, die halbe Schule auszumessen. Das ist doch Mist! Die Investments waren wichtig, auch für die Zukunft, aber die Durchlässigkeit der Bildungsmittel und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gremien funktionierte nicht und den Schulen fiel es schwer zu handeln. Deswegen begrüßen wir vor allem, dass zukünftig der Bund also auch bei der Finanzierung von Bildungsmitteln auf Länderebene und auf kommunaler Ebene mit unterstützen kann. Das ist sehr wichtig, weil wir einen sehr großen Berg an auf uns wartenden Investitionen haben, auf die die Schüler allerdings nicht warten können. Deswegen gilt bei der Bildungsfrage vor allem Tempo, Tempo, Tempo.
Inhaltlich ist mir zudem sehr wichtig, dass wir deutlich machen, dass die Förderschulen zu erhalten sind. Dieses Thema wird in dieser Landtagswahl leider nicht besprochen. Da fehlt mir ein klares Bekenntnis von Rot-Grün, die ja in der ihrer Zeit die Förderschulen abschaffen wollten. Wir haben sie erhalten, haben sie ertüchtigt und die Möglichkeit gegeben, für diese Kinder auch Chancen zu liefern, dass sie sich auch breit entfalten können. Und jetzt fehlt mir das Bekenntnis. Das heißt, es ist mir unglaublich wichtig, egal wie am Ende eine Regierung aussieht, dass wir uns darum bemühen, dass die Förderschulen erhalten und weiter ausgebaut werden.
Und ein weiterer Punkt ist natürlich, dass alle Teile des Schulsystems in den Fokus geraten und nicht nur auf die Gesamtschule geschaut wird. Die Gesamtschule ist beim Elternwillen sehr hoch angesehen und den Elternwillen respektiere ich auch. Aber mir sind auch wichtig, dass wir unsere Hauptschulen und Realschulen nicht schlecht sprechen, weil es nicht immer nur erstrebenswert sein muss für unsere Kinder, dass jeder einen gymnasialen Abschluss haben muss. Nein, der Realschulabschluss ist gut, der ist wirklich gut, und der Hauptschulabschluss ist auch gut. Wir haben Ihn schlecht geredet und das finde ich sehr, sehr schade.
Also: Neben den infrastrukturellen Investitionen auf der einen Seite ist vor allem wichtig, dass das Schulsystem in Gänze in den Blick gerät. Es darf nicht Richtung Einheitsschule abdriften, denn die hilft am Ende den Wenigsten. Es ist eine Lösung für kleine Probleme, aber schafft riesige Probleme. Und mein Herzensthema: die Förderschulen, die sind wirklich wichtig. Und da brauche ich mehr Bekenntnis der anderen Parteien, die antreten – besonders von den Grünen und der SPD.
Guthier (stadt40): Wir kommen zum Gesundheits- und Infektionsschutz, ein Thema, das uns die letzten drei Jahre begleitet. Es werden nun nahezu alle Corona -Schutzmaßnahmen abgeschafft. Halten Sie das für angebracht?
Kemler (FDP): Ich halte den Begriff „Corona- Schutzmaßnahmen“ für fehlgeleitet. Diese Aussage mag als FDPler nicht überraschend sein. Es sind keine Corona -Schutzmaßnahmen abgeschafft, sondern sie sind demokratisiert worden, weil die Länder schon die Möglichkeit haben, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, wo es notwendig erscheint. Die Situation ist einfach anders: wir sind nicht mehr im April/Mai 2020, sondern im April/Mai 2022, gerade weil die Omikronwelle sich in Deutschland durchgesetzt hat. Das Infektionsgeschehen ist nun ganz anders gelagert. Wir haben Menschen verloren in dieser Pandemie. Diese sind gestorben. Es gab keinen Schutz. Es hat lange gedauert, bis wir einen Impfstoff hatten. Jetzt im April 2022 ist das eine andere Situation. Noch immer erkranken zu viele Menschen und noch immer müssen wir für eine größere Impfbereitschaft kämpfen. Es ist aber nicht mehr angemessen, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen wie im Sommer 2022. Wir müssen uns auch weiterentwickeln. Hendrik Streeck wurde am Anfang der Pandemie sehr hart angegangen für den Satz: Wir müssen mit diesem Virus leben lernen! Aber es scheint heutzutage der Fall zu sein. Die FDP setzte sich gegen eine Impfpflicht ein, da wir keinen Impfstoff haben, der den Virus ausrottet. Wir müssen also damit umgehen lernen, und das heißt nicht, dass wir uns weiterhin in unseren Häusern verstecken müssen. Neben den Opfern der letzten Jahre müssen wir auch die psychischen Leiden, die bei Menschen aufgrund der Corona - Pandemie auftreten, beachten. Menschen, die den Anschluss verloren, und Schüler, die zu Hause blieben und sich nicht weiterentwickelt haben, die Jahre verloren haben. Deswegen müssen wir ein gesellschaftliches Leben ermöglichen und ein Gesundheitsschutz, da wo er notwendig ist, zum Beispiel durch die Hotspotregelung.
Guthier (stadt40): Wie sieht nach Ihnen eine angemessen Corona - Politik, die die BürgerInnen und Bürger schützt, aus?
Kemler (FDP): Eine Corona - Politik muss angemessen darauf zugeschnitten sein, wo wir uns gerade mit dem Coronavirus befinden, und ich glaube, dass wir das in NRW sehr gut machen. Der Bürger ist am besten geschützt durch die Impfung. Und ich rufe jeden Bürger dazu auf, sich impfen zu lassen. Es ist der beste Schutz, den man am Ende haben kann.
Guthier (stadt40): Großer Sprung: Nennen Sie mir einen wichtigen Punkt hinsichtlich der Veränderung der inneren Landespolitik in NRW?
Kemler (FDP): Wir haben in dieser Periode gute Fortschritte hinsichtlich der inneren Sicherheit und dem Ausbau der Polizei gemacht. Wenn wir auf das Herzensthema Bürgerrechte gucken, dass für die FDP sehr wichtig ist, gibt es viele wichtige Schritte, die wir noch gehen müssen. Zum Beispiel müssen wir eine Beschwerdestelle losgelöst von dem Polizeiapparat im Landtag anordnen, um polizeiliches Missverhalten nicht innerhalb der Polizei klären zu müssen, sondern diese dezentral verfolgen zu können. Dies ist wichtig, um Vertrauen zur Politik und zum Polizeiapparat zu schaffen.
Guthier (stadt40): Damit wäre unser Interview hier zu Ende. Hier wäre nun Platz für Ihr Schlusswort!
Kemler (FDP): Geht wählen!